Musik ist Trumpf

Durch einen im heimischen Briefkasten überraschend vorgefundenen Hinweis einer Frau Dr. Sowieso aus Ludwigshafen wurde auf eine CD-Taufe hingewiesen. Die Frau Doktor blieb weiterhin unbekannt, doch der Inhalt des Couverts war vielversprechend. Die kultische Handlung war in Wiesbaden angesetzt und sollte deutsche Schlager aus den 20ern, 30ern, 40ern und 50ern des letzten Jahrhunderts im frischen Gewand präsentieren. Pflichttermin nur Hilfsausdruck, zumal es sich bei den Täuflingen um die langjährigen Favoriten Augst & Daemgen handelte, deren interessantes musikalisches Schaffen seit geraumer Zeit mit wachsender Begeisterung goutiert wird. Nach etwas Hirnen konnte mittels einer Prise vom glücklichen Umstand das Wochenende geplant werden und das Bahnabenteuer ab Zürich wurde wohlgemut und mit leicht kribbelnder Vorfreude angegangen.

So, wie das Meer, ist das Leben. Ewige Ebbe und Flut.

Nach einem kurzen Unterländer Zwischenstopp ging es weiter an Neckar und Rhein entlang in die hessische Haupt- und Kurstadt; heute gilt diese als eine der wohlhabendsten Gemeinden der Bundesrepublik. Zürich-Wiesbaden also reine Wohlfahrt, hehe. Von der Stadt selbst konnte aufgrund der anbrechenden Dunkelheit nicht all zu viel aufgesogen werden, die Zeit und das Ziel liessen keinen Bummel zu. Ausser einem zwitschernden Baum und den in D üblichen Randständigen in der Bahnhofsgegend blieb nichts hängen.

Dank gründlicher Recherche im Netz konnte das unbekannte Terrain einigermassen zielsicher angesteuert werden, nur dann, knapp vorm Aufschlag ging es fehl. Eine Dreier-Gruppe inklusive Rollstuhl, ein schwergewichtig schnaufender Ami und der von bereits zehnstündiger Reise etwas strapazierte Hobbyschweizer landeten am dunklen Stadtrand in einer Sackgasse. Alle Online-Pläne meinten übereinstimmend dass die Örtlichkeit zwar direkt vor uns läge, aber es gab einfach kein Durchkommen. Trübe herbstliche Nässe schlug bereits aufs Gemüt, als es nach einem geordneten Rückzug dann doch noch gelang korrekt einzufädeln und das Lokal des Glücks lag erleuchtet vor uns. Rollstuhlrampe gab es zudem.

Das Leben ist kein Tanzlokal

Von der Homepage bekannt war die Übersichtlichkeit des Jazzclubs art.ist, doch verblüffender weise war der Besucherandrang überhaupt nicht drängend. Nasowas, heute sind doch die Cracks da, die die sich seit geraumer Zeit am Liedgut der Deutschen abarbeiten und etliche Inspirationen mit ihren Interpretationen schufen, so dass manche der teils völlig überspielten ollen Stücke wieder richtig gut tönen.

Drinnen an der Kasse fast unverschämt günstige 14 Euro, vier für ein Glas Wein und – surprise, surprise – die ersten 10 Gäste des Abends erhalten die zu taufende CD gratis! Potzblitz, ja was ist das denn für ein herzliches Willkommen nach der Odyssee des Tages! Vorfreude plus mehr Freude quasi Freude im Quadrat.

Mit dem Glas Wein ging es in den kleinen Saal, um das Programmblatt genauer zu studieren. Aha, könnte den Abend weitestgehend mitsingend verbringen. Die Platznachbarin stimmte zu und war erstaunt, ob der weiten Anreise und offensichtlichen Fantums meinereiner. Die Plätze füllten sich langsam, doch mehr als 30 Personen zählte ich fast ungläubig nicht. Später meinte Marcel Daemgen, dass es besonderen Spass machte vor «handverlesen Publikum» zu musizieren.

Der mitproduzierende Redakteur vom DLF trat auf und gab die erklärende Einleitung. Es sei in den letzten 25 Jahren die siebte gemeinsame Einspielung und diese sei die brisanteste. Schlager meist schlüpfriges Terrain, aber Augst und Daemgen trügen dank Dekonstruktion und Intervention, durch eigene Betonung und freche Disruption ihren Teil dazu bei, die bekannten Gassenhauer im Hören neu zu erleben. Bloss seien deren Interpretationen eben nicht zum Mitsingen gedacht – autsch. Auferstanden aus Ruinen und Heile, Heile Gänsje also ohne mich. Schade eigentlich, doch aller Respekt gebührt den Künstlern des Abends, d’accord. Und die waren nicht nur zu zweit gekommen, also Stimme und Elektronik, sondern brachten mit Sophie Agnel am Flügel sowie Jörg Fischer am Schlagwerk geübte Könner mit. (Tipp: die Madame an den Tasten und Saiten tourt im November – ein immersives Klangereignis ist garantiert.)

Nach der erhellenden und zugewandten Einführung erschienen die Helden des Abends tatsächlich auf der kleinen Bühne. Locker bekannt waren sie bereits durch das eine oder andere Video. Oliver Augst mit längeren, leicht wirr getragenen Haaren, Marcel Daemgen wie üblich in seinem champagnerfarbenen Anzug. Frau Agnel, ach ja, die sprach vorhin frankophon an der Bar und der ebenfalls vorher schon gesichtete bärige Percussionist nahmen ihre Plätze ein.

Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht, bedeutet Seligkeit und Glück

Mit «So oder so ist das Leben« wurde der Abend eröffnet, mit «Wenn ich mir was wünschen dürfte« gings weiter und im Anschluss dran rasant, rasant «Ich weiss, es wird einmal ein Wunder geschehn», heiligs Blechle, die gehen ja ran, Zwischenapplaus war zuvor verbeten worden. Knarzige Korg-Töne, krachendes Drum & Bass ausm Macbook, dazu das manipulierte Spiel am Flügel, Haarbürste, Murmeln etc., alles im Einsatz, Frau Agnel sass kaum, schon stand sie wieder mit der Hand an den Saiten, um donnernde Töne zu dämpfen. Der Percussionist schlug auf allerhand Metall, welches auf den Trommeln platziert wurde, blies ein direkt auf den Fellen aufsitzendes Trompetenmundstück, oha, freejazzig, es war laut, es war dreckig, es war akkurat und stimmig, trotz aller kakophonischer Einsprengsel. Oliver Augst wie immer leicht exaltiert, dabei knapp vor jedweder Peinlichkeit hielt tapfer durch und sorgte mit seiner Stimme für Eindringlichkeit. Es freute mich den heftigen Elektroniker beim sich freuen zusehen zu können, denn seinen innewohnenden Schalk hatte ich auf den diversen Tonträgern schon immer deutlich raus gehört. Dann brach doch der Applaus den Bann, als die Kapelle hineinsteigernd sich fast verlor und bei «Davon geht die Welt nicht unter» für wirklich ganz neue und pochend hämmernde Tonkaskaden sorgte und der kleine Club beinahe abhob. Surreal die Stimmung, die Schlager wurden exekutiert und standen doch immer wieder auf, «Heile, Heile Gänsje» und «Er heisst Waldemar» sorgten weiter für prächtige Stimmung, während ich derweil stumm mitsang und in einer Liedpause geschwind einen Schluck vom einst im Köpenicker Weinladen Kennen und Schätzen gelernten Corbière nehmen musste, um wieder einigermassen geerdet zu werden

Meine Güte, was für ein Tempo, was für ein Parforceritt durch die nicht immer allerhellsten Zeiten meines Geburtslandes. Der DLF-Redaktor Frank Kämpfer hatte dabei zu Beginn ganz deutlich betont:

Aus der Krisenwahrnehmung unserer Gegenwart strecken sich uns beredte Jahreszahlen deutscher Geschichte entgegen: 1923, 1933, 1943, 1953. Wir verstehen diese Spanne, die fast ein halbes Menschenleben umfasst, als einen historischen Block immenser Schreckenserfahrung – verbunden mit starker Verunsicherung und wiederholter Auflösung gültiger Normen und Werte. Eine unserer Thesen lautet: Eine bislang wenig beachtete, vielleicht gar ihre wichtigste Bewältigungsform sei die verzweifelte Suche nach Normalität. Im Namen ihrer „Re-Integration in die Normalität“ – so die US-amerikanische Historikerin Monica Black – blendete der Großteil der deutschen Bevölkerung das in jenen Jahrzehnten Durchlebte aus, verschwieg und verdrängte die in Krieg und nationalsozialistischer Herrschaft getätigten Erfahrungen, statt sie aufzuarbeiten und nicht der Folgegeneration zu übertragen.

Denn in uns allen liegt die Sehnsucht nach dem Einen

«Mutter, hast du mir vergeben», die Dietrich vor Augen. Eindringlich unter die Haut gehend, schwer aufatmend und dann der mögliche Disco-Knaller «Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da». Uff, gut gab es «Kauf dir einen bunten Luftballon» zum Programmende, der schön und ruhig richtig durchatmen liess. Ganz schön ramponiert und doch high war die rauschhafte Achterbahnfahrt nach 50 Minuten fast vorüber, bevor, ja ja, tüchtiger Applaus, dann doch die passende Zugabe mit «Das Lied ist aus» gegeben wurde.
Völlig geplättet brachte ich noch ein Grandios! zu meiner Sitznachbarin heraus, dann weiter Händewundklatschen und Bravorufen. Marcel Daemgen lud nach einer Beruhigungspause alle auf ein Glas Sekt ein und der Umtrunk wurde mit dem Toast «Musik ist Trumpf» eingeläutet. Zwei drei Worte des Lobes konnte ich an den eindrücklichen Oliver Augst richten, er lobte retour und dann hiess es schon wieder weiter gehts, da die Bahn kurz vor Mitternacht nicht ohne mich fahren sollte. Und die Musik fuhr ein ganzes Stück weit mit.

Reines Welttheater

Das traditionsreiche Welttheater auf dem Klosterplatz in Einsiedeln feiert den 100sten, wobei – genötigt durch die Seuchenjahre – die Spiele um vier Jahre verzögert erst darum punktgenau im Jubiläumsjahr landen konnten. Ein Spielvolk von 500 Laien aus dem Ort agiert unter professioneller Anleitung den Sommer über vor der barocken und gewaltigen Kulisse der Klosterkirche der Benediktinerabtei. Angelehnt an das Werk von Pedro Calderón wird das einst streng christliche Lehrstück seit 1924 ungefähr alle zehn Jahre gegeben und dabei erst seit 2000 allmählich in etwas zeitgemässere Formen überführt, was nicht ganz ohne Reibungen geschieht, da das Kloster selbst ein gewichtiges Wort bei Planung und Durchführung mitzureden hat. Für die 2020 geplante Aufführung wurde Schriftsteller und Theatermacher Lukas Bärfuss engagiert, der quasi ausgehend von der Unmöglichkeit eines Welttheaters in heutiger Zeit trotz der Warteschleife eine eindrucksvolle Interpretation schuf.

Für die vorletzte Aufführung dieser Saison konnte noch geschwind ein Ticket ergattert werden und voller Vorfreude ging es in hoch in den Kanton Schwyz, zumal das spätsommerliche Wetter versprach ebenfalls mitzuspielen. Gleich beim Verlassen des Zubringerzuges wurde – hallo Kulturschock – die würzige Landluft mit diesem leichten, dem Städter fremden Odium von mindestens Tier bis frisch ausgebrachter Jauche vor der nahenden Regenzeit olfaktorisch deutlich.

Auf der Tribüne dann direkt neben meinem Platz eine Freiwillige von Arbeiter Samariter Bund Einsiedeln, die das Stück bereits achtmal unfallfrei sehen durfte und zur Dernière anderntags verdientermassen zur Belohnung einen Ehrenplatz in der Loge erhält. Wenn ich gross bin werde ich auch Samariter…

Ein König, ein Bauer, ein Reicher, ein Armer, die Schönheit und die Vernunft sind die ursprünglich vorgesehen Parameter des spätmittelalterlichen Stückes. Eben jene symbolhaft dargestellte Metaphern seien laut der Figur des Regisseurs – welcher in der heutigen Version quasi Gott ersetzt – nicht gewillt weiterhin mitzuspielen. Die Geschichte sei schlicht auserzählt und das Welttheater daher abgesagt heisst es lapidar. Ein Junge und ein Mädchen sind für die Rolle der ungeborenen Kinder eingeplant und daher über die kurzfristige Annullierung masslos enttäuscht. Das junge Mädchen möchte die Absage jedoch trotzig nicht akzeptieren, will unbedingt spielen und nur dank ihres unbändigen Willens sowie der gütigen Mithilfe einer harlekinesk die Welt verkörpernden Schauspielerin beginnt der Reigen dann doch noch. Die ehrwürdigen Protagonisten akzeptieren und nehmen ohne weiter mitzutun in ihrer den Kontrast zur Jetztzeit verstärkenden altertümlichen Kostümierung auf einer Seitenempore eine passive Zuschauerrolle ein, nur um im Verlauf des Abends eine(r) nach dem anderen abzutreten, um derart szenisch einen Punkt oder gar Rufzeichen zu setzen. Bemerkenswert: lediglich die Schönheit verweilt bis zuletzt im Stück und räumt ihren Platz nicht.

Das junge Mädchen wird im Verlauf des Stückes mehrmals durch jeweils ältere Versionen bis hin zur Greisin ersetzt und allen gemeinsam führt das Streben nach Glück, Macht, Reichtum und Schönheit durch Höhen und Tiefen bis zur finalen Erkenntnis der eigenen Endlichkeit. Der Kreis schliesst sich, als alle Versionen des Mädchens zusammen auftreten, die älteren Versionen vom Tod begleitet abtreten und nur das Mädchen unbedingt weiter «spielen» möchte und lautstark nach Spielkameradinnen ruft. Nach einer kurzen Pause bangen Wartens kommen schliesslich aus allen Ecken des riesigen Platzes Kinder angerannt und das Spiel beginnt so von neuem, endet aber an jenem Abend in einem grossen Finale aller Beteiligten.

Eine tolle und wichtige Rolle spielte bei der Aufführung Musik und Gesang, live von einer vorzüglichen Kapelle mit kompetenten Sängerinnen plus Chor vorgetragen. Licht und Sound weben ein dichtes Netz, Rauch- und Knalleffekte sowie aufsteigende weisse Tauben akzentuieren überraschend und geschickt die Handlung. Die Bildersprache rauschhaft: Aufmärsche mit roten Fahnen, Verslumung durch Verelendung, martialische Totalität durch Grössenwahn, Bilderstürmerei und Klosterraub, schockierende Kinderschändung und eigene Ignoranz – alles da und nichts bleibt unerwähnt. Welttheater halt und grandios nur Hilfsausdruck für das imposante Licht- und Schattenspiel vor und auf der klösterlichen Kulisse. Mehrfach sorgen auf einer Art Metaebene slapstickhaft auftretende Bühnenarbeiter im Lauf des Stückes für eine humorvolle Erdung.

Das Mysterienspiel in jener stark modernisierten Fassung war einfach phänomenal und die Spielfreude der Laien ansteckend. Wohltuend zudem, dass an einem eigentlich recht konservativen Ort eine progressive Weltsicht soviel Zuspruch finden kann; anscheinend gar kein Widerspruch in der Ruralität oder einer, welcher womöglich nur im bornierten Städter haust. Auch das anfänglich irritierende Odium war zum Ende hin gar nicht mehr spürbar, und so ging es doppelt immunisiert wieder runter ins Tal mitsamt den vielen glücklich verzauberten und dankbaren Festspielbesuchern in einer übervollen Südostbahn.

Landi wieder gelandet

Hinrunde

Nachdem der erkennbar schwach geschossene erste Penalty aus 12 Yards vom englischen Goalie mühelos entschärft werden konnte war das Wochenende theatralisch gelaufen und ersoff regelkonform in Blitz und Donner. Die recht siegessichere Auswahl der eidgenössischen Fusslümmel schied einigermassen unglücklich aus und musste vorzeitig retour. Obwohl notabene ungeschlagen – sowohl nach FIFA wie UEFA-Statuten geht das Ergebnis nach der regulären Spielzeit in die Statistik ein; das leidige Elfmeterschiessen dient bloss als Ersatz für den früher üblichen Münzwurf zwecks Qualifikation für die nächste Runde.

Am Zürcher HB anderntags dann ein trostspendender Empfang, welcher die vergegenwärtigte Laune nur unwesentlich zu bessern vermochte. Zusammen allerdings immer wichtig – Stichwort Feedbackkultur.

Die Willkommensparty stand unter dem Motto «Wir sind Schweiz.» Fast 100 Prozent aller Partygänger trugen freiwillig eines der von der UBS gesponserten Dächlikappen und der Einpeitscher aus dem Wallis sorgte trotz vorheriger Verfehlung für Stimmung und vertrieb routiniert Reste von Trübsal. Kurzinterviews mit Spielern und Staff (item – Xherdan S. wollte den raffinierten Corner kurz vor Schluss direkt verwandeln, momentane Leere aber Zukunft topp, Lebbe geht weiter, Nati-Koch geht nach 28 Jahren und 13 Turnieren in Pension) nebst signierten Plastikbällen wurden dem dankbaren Publikum zugeworfen und sogar zugeschossen, wobei Kunstschütze Shakqiri prompt die Videowand traf, welche daraufhin erblindete.

Nach den atmosphärischen Störungen früherer Championate (Haare blondieren, Doppel-Adler parodieren, plumpe bis brüske Antworten auf Pressefragen, Secondos vs. Bio-Schweizer) schien diesmal auch der Mannschaftsgeist in Stuttgart-Degerloch ganz gut untergebracht. Lag es am Ende vielleicht doch am Rasen-Gate? Allenfalls wäre die Deutsche Bahn hier fein raus, wiewohl die Heimreise mit den beiden Reisecars angetreten wurde, was hierzulande süffisant anhand der akkuraten Pünktlichkeit (Live-Übertragung im SRF!) am HB erklärt wurde…

Beim Abgang Zirkus nur Hilfsausdruck.

Rückrunde

Nach dem Spiel bekanntlich immer vor dem Spiel und darum folgte das kulturelle Nachspiel der nervenzehrenden Viertelfinals noch am selben Sonntagabend, wobei der Neue Zürcher Kammerchor mit geschickter musikalischen Anlehnung an den real existierenden Fussball inklusive eines wirklich liebevoll gestalteten Programmheftes völlig verdient und überdies glanzvoll punktete.

Chorwerke aus fünf Jahrhunderten Calcio/Football/Fussball wurden gekonnt zum Besten gegeben. Ein zusätzlicher Hilfspunkt wurde fachkundig im Pausenquiz erstrebt, als die Frage nach dem ersten Europameister mit einem treffsicherem UdSSR! gekontert werden konnte. Beim berühmt-berüchtigten Liverpooler Gassenhauer drückten dank der brillant aufgestellten Sopranistin schon ein wenig die Tränen und aufgrund des sportlich wie stimmlich tadellosen Auftritts des gemischten Chores inklusive Kommentators war die Gefühlswelt beinahe wieder in Ordnung.

Selig lächelnd wurde auf dem Heimweg monoton pedalierend das hymnische Youneverwalkalone wiederholt und jenes Mantra half bestimmt karmatechnisch locker über auf den Berg.

Open AIR

Auch ohne Sommer geht die Konzertsaison dank Regenponcho nahtlos munter weiter.

Mit einer Welttournee feiert das französische Duo AIR 25 Jahre Moon Safari – jenes epochale Werk erschien kurz vor der Jahrtausendwende und kreierte eine wahrlich bezaubernde Stimmung. AIR steht für epische Elektroballaden mit schlau verschachtelte Rhythmen nebst eingängigen Melodien und schlichten aber klaren Textbotschaften. Der Sound selbst ist überraschend gut gealtert, analoge Korg-Synthesizer und eine knarzige 808 von Roland sind an Krassheit einfach nicht zu toppen. Dazu der brachiale Einsatz eines hinzugezogenen Spezialisten in Sachen Perkussion und fertig ist die Kiste.

Weiss wie die Musiker war nämlich die Kiste und von hinten wurde mächtig Licht nebst kurzen Videos projiziert. Das kontrastreiche und bunte Schattenspiel war geradezu grandios anzusehen. Das Setting in der Bühne auf der Bühne verwehte zwar etwas im Freien und wirkt sicherlich um einiges imposanter in einem geschlossenen Konzertsaal, wo sich Licht, Nebel und Klang nicht ganz so leicht verflüchtigen können, doch ist die Idee und Konzeption dieses optischen Gesamteindruckes eine wahre Meisterleistung.

Leider war der Juniabend etwas feucht im Hof des Zürcher Landesmuseums, doch tat dies der Stimmung aufgrund der verblüffend vielen guten Songs keinen Abbruch. Nach dem imponierenden Replay von Moon Safari wurden in der zweiten Hälfte noch etliche weitere Hits v. a. aus Talkie Walkie und 10 000 Hz Legend gegeben und all dies mit unerhörter Perfektion. Als Connaisseur Begeisterung nur Hilfsausdruck. Gleich unserem Zentralgestirn wurde lediglich Le soleil est près de moi etwas vermisst.

Zunächst wollte die Open-Air-Novizin gleich in die Frontrow, was der erfahrene Seniorhörer mit Hinweis auf bester Sound immer in der Nähe des Mischpultes schlicht verweigerte. Wenig später wurde das überraschte Staunen über die körperliche Reaktion auf die ausgestrahlten Sub-Frequenzen im Oberkörperbereich gegen die Akzeptanz eines seriösen Abstandes von der Boxenwand gerne eingetauscht. Der famose Rausschmeisser Electronic Performers wurde dann noch einmal mit der ganzen Wucht sämtlicher vorhandener Elektronen zum Besten gegeben.

Dem Hobbyschweizer klingen noch am Tag danach die Ohren, da die dargebotenen Gadgets tapfer im Hosensack verbleiben…

Werbewirkung

In einer Ausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich wird Oliviero Toscani mit einer Retrospektive bedacht, welche erstmals sein gesamtes Werk umfasst. Der ab 1983 als Werber für Benetton bekannt gewordene Fotograf, Creative Director und Bildredakteur hat ohne vorherige Deutschkenntnisse seine Ausbildung an der Vorgängerin der ZHDK in den 1960ern gemacht und damit die Basis für seine internationale Karriere gelegt. Nach einem Stipendium in den USA kam er in Kontakt mit Andy Warhol und dessen legendärer Factory. Aus jener Zeit stammen auch die meisten Portraits der Ausstellung, die in Zürich gezeigten spätere Arbeiten umfassen beispielsweise die Bildwände «United Colors of Sexes» von 1993 zur Biennale.

Die kontroversen Kampagnen für das italienische Modehaus Benetton thematisierten Gender und Rassismus, Ethik und Ästhetik. Teilweise wurden die schockierenden Plakatmotive vor Gerichten verhandelt, oft verboten und vielmals geächtet, wobei sie gleichzeitig immer Gesprächs- und Diskussionsstoff boten. Den Vorwurf er wolle mit seinen Eyecatchern Pullover verkaufen konterte er damit, dass er mit den Pulloverkampagnen gesellschaftliche Realität abbilden wolle. Zum Tode geweihte AIDS-Kranke, brennende Autowracks nach einem Attentat durch die Mafia, blutgetränkte Kleidung eines Opfers im jugoslawischen Bürgerkrieg, Kopulation eines dunklen Hengstes mit einer weissen Stute. Was heute noch immer stark wirkt ohne zu verstören war damals meist Skandal. Die Bildsprache von Toscani bleibt weiterhin gut verständlich und als Werbung schlicht ikonisch.

Danger in Luzern

Seit dem überwältigende Erfolg der deutlichen Ansage in «Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt» durch Danger Dan stand eben jener schon ziemlich lange nicht nur auf der eigenen Wunschliste; entweder ziemlich rasch ausverkauft oder aber terminlich und örtlich unpassend. Beim dritten Versuch hat es nun endlich geklappt und eines der letzten Tickets konnte ergattert werden. Die Vorfreude war riesengross, das Wetter prima und mit etwas zeitlichem Vorsprung konnte nun auch die architektonische Schönheit KKL näher in Augenschein genommen werden. Das freitragende Dach und der Balkon ganz oben stilvoll und mit schöner Aussicht aufs Alpenglühen. Wirklich eine kleine Preziose dieses Luzerner Konzerthaus!

Zur Einführung kokettierte der Kurator schon ein wenig mit seinem Publikum, als er aus dem bildungsbürgerlichen Blatt NZZ vorlas, welches ein sich dezidiert politisch äussernden Liedermacher auf einem Klavier-Fest als Fehlbesetzung hinterfragte. Zitat: «Ob das alles noch von der Idee eines traditionellen Klavierfestivals gedeckt ist, steht auf einem anderen Blatt.» Doch Igor Levit und Danger Dan hatten Heimspiel sowieso und Auswärtsfans waren quasi nicht zugelassen.

Das den Wert der Tradition so nicht unbedingt teilende Publikum betrachtete die kurze Lesung als muntere Auflockerung und quittierte mit lautem Lachen und ironischem Applaus.

Foto: © Patrick Hürlimann

Zunächst mit Solo-Programm alleine auf der Bühne, später dann mit einem engagierten Heck Quartett und noch etwas später, als der Liedermacher am E-Piano anscheinend nicht mehr weiter wusste, half der vom Publikum mit Igor-Rufen geforderten Edelpianist selber aus und zeigte, welche Töne aus den Tasten zu holen sind, wenn man Noten lesen kann. Denn das DER Unterschied – Levit hatte sogar einen Assistenten, der das iPad mit Ständer auf die Bühne brachte, von dem fleissig abgelesen wurde…

Foto: © Patrick Hürlimann

Daniel und seine Freunde lieferten – donnernd und bebend tobte der bis zum 4. Rang gefüllte Saal und fast alle machten mit, als Danger Dan darum bat die Handylampen zu einem Liebeslied aufleuchten zu lassen. ESC? Noe. Schlager kann auch Antifa.

Foto: © Patrick Hürlimann

Trotz aller professionellen Bühnenpräsenz liess Danger Dan in den Zwischenansprachen immer auch das menschliche und politische Ansinnen durchscheinen, besonders als von den Streichern eine sich gegen den Nazi-Terror richtende Komposition «Mein Vater wird gesucht» von 1935 musikalisch eindrücklich und berührend gegeben wurde. All das sicher keine Pose, sondern ernsthafte Haltung, wenn es weiter um rechte Rattenfänger, Sextouristen in Thailand oder den alles verzehrenden Kapitalismus wie in Ölsardinienindustrie ging.

Nach der zum Kafka-Jahr passenden Verwandlung und vollends glücklich berauscht rollte der äusserst gelungene Luzerner Abend noch selig mit im Zug retour nach Zürich.

Aber dann kommt die Angst so zu sein, wie du warst
Löst die Ängste aus deiner Vergangenheit ab
Du erinnerst dich nicht, aber ganz genau das
Was du bist, wolltest du nie werden, hast du gesagt
Die Angst so zu sein, wie du warst
Löst die Ängste aus deiner Vergangenheit ab
Eines Morgens wachst du auf in der Gestalt eines Käfers
Die Verwandlung kommt über Nacht


PS: Ein herzliches MERCI an den Fotografen Patrick Hürlimann, über den ich einige seiner schicken Bilder direkt vom Lucerne Festival erhalten konnte. Das natürlich Kirsche auf dem Sahnekuchen!

PPS: Vom Festival selbst gab es es für alle Gäste noch einen netten Rückblick auf Youtube.

 

Magische Bilderwelt

Fritz Langs Metropolis wird in Bälde 100 Jahre alt und ist doch jung geblieben. Die in drei Episoden unterteilte Erzählung ist trotz des damaligen Durchfalls beim Publikum mit der Zeit ein grosser Liebling des Feuilletons geworden und die aufwändig restaurierte Fassung lief 2010 stolz auf der Berlinale. Die Band Kraftwerk benannte eines ihrer Lieder auf dem Album Menschmaschine nach Metropolis und eine Menschmaschine spielt im Film selbst eine gewisse Rolle. Bei den Zürchern Orgeltagen wurde dieser schwarzweisse Stummfilm nun eindrücklich musikalisch ausgemalt.

Vor circa einem halben Menschenleben sah ich den Film zuletzt in einer früheren Fassung. Beim Wiedersehen war ich nicht weniger verblüfft und hingerissen, als der monumentale Film mit einer Länge von über Zweieinhalb Stunden durch schiere Gigantomanie von Bildsprache, Bühnenbild und Personalaufwand mit gleichsam feinsinnig akzentuiertem Humanismus mich wiederum ganz in seinen Bann zog. Dank der expressiv auftretenden Schauspielgarde mit Brigitte Helm als Krönung entfaltet Metropolis mitsamt der gekonnten Licht- und Kameraeffekte noch heute eine besondere und fast magische Wirkung. In der Zeit zwischen den beiden grossen Weltkriegen entstanden ist das Kunstwerk ein brillanter Funke, der bis ins Heute strahlt. Das Leitmotiv in dem modernen Märchen ist die pathetische Mittlerrolle, welche der Protagonist, der im Verlauf eher zufällig einer gewissen Maria anheim gefallen ist, am Ende ausüben muss, nachdem er durch aktiven Rollentausch sowohl die Ober- wie Unterwelt von Metropolis kontrastreich und vor allem leibhaftig erfährt.

Zwischen Hirn und Hand braucht es einen Mittler, das Herz! so heisst es im Abspann. Manche Weisheiten altern überraschend gut.

Liebesgrund

Um den Jahreswechsel herum fiel ein Graffity am Friesenberg ins Auge, welches sich inhaltlich zunächst noch etwas rätselhaft gebar, im Gesamteindruck aufgrund Farbgebung inklusive Codewort Letzigrund jedoch ein schlüssiges Bild jenes pubertierenden Fantums abgab, das in der Stadt an allen möglichen bis unmöglichen Orten immer wieder mal auftaucht. Obgleich das klugschwätzende Sprachmodell in der rechnergestützten Interpretation eher vage bleibt und das Wort «könnte» vorsichtshalber in wirklich jedem einzelnen Satz einbaut, ist das Ergebnis in der Tendenz dann eindeutig.

    1. Leidenschaft im Stadion:
      • Die Phrase könnte darauf hinweisen, dass die Liebe inmitten der Leidenschaft und Intensität eines Stadions wie dem Letzigrund gelernt oder erlebt wurde. Das Stadion könnte als symbolischer Ort für emotionale Höhen und Tiefen stehen.
    2. Entwicklung in Beziehungen:
      • Es könnte bedeuten, dass die Liebe auf den Stufen des Letzigrund-Stadions gelernt wurde, was auf eine fortschreitende Entwicklung in romantischen Beziehungen hinweist. Stufen könnten als Metapher für verschiedene Phasen oder Herausforderungen in einer Beziehung stehen.
    3. Gemeinsame Erinnerungen und Emotionen:
      • Die Phrase könnte darauf hindeuten, dass die Liebe auf den Stufen des Letzigrund aufgrund gemeinsamer Erlebnisse und Emotionen entstanden ist. Das Stadion könnte ein Ort sein, der für beide Partner eine besondere Bedeutung hat.

    4. Verbundenheit durch Sport:
      • „Liebe glernt uf de Stufe vom Letzigrund“ könnte auch auf die gemeinsame Liebe zum Sport und die Verbindung durch Fussballspiele im Letzigrund-Stadion hinweisen.
    5. Liebe zur Stadt oder Gemeinschaft:
      • In einem breiteren Kontext könnte die Phrase die Liebe zur Stadt Zürich oder zur Gemeinschaft symbolisieren, die durch Ereignisse im Letzigrund-Stadion gestärkt wurde.

Fotorat

Für uns soll′s leere Blätter regnen,
Uns sollten sämtliche Wunder begegnen
Die Welt sollte sich umgestalten
Und ihre Sorgen für sich behalten

Und später, sagten wir noch
Wir möchten verstehen, viel sehen, erfahren, bewahren
Und später, sagten wir noch: Wir möchten
Nicht allein sein und doch frei sein
Für uns soll′s weisse Blätter regnen.

Värslischmid

Hans Peter «Mani» Matter (* 4. August 1936; † 24. November 1972)

Der noch immer bekannteste Schweizer Mundart-Liedermacher verunglückte vor 50 Jahren auf der Autofahrt zu einem Konzert in tödlich. Kurz zuvor stellte der begabte Troubadour das Libretto zu seiner Anti-Oper namens «Der Unfall» fertig, worin ein Fussgänger überfahren wird, weil dieser – völlig in Gedanken an eine verpasste Musikkarriere versunken – unachtsam eine Fahrbahn kreuzt.

Matter hat die der heimatlichen Folklore verbundene Berner Mundart mit viel sprachlichem Geschick zu einer dichterisch vielseitigen Ausdrucksform verwandelt, mittels der man durch semantische Verkürzung mit wenig viel sagen kann. Zudem steckt sich in seinen Versen oftmals ein brillanter Wortwitz, der durch humorvolle Entlarvung vom Menschen und seinen Nöten eine Art katharsische Befreiung durch lauthalses Lachen gewährt. Merssi viu mau!

Was ist das Ziel?

Es ist November und der Regen
kriecht durch die Kleider auf die Haut.
Ich geh alleine auf den Wegen
die mir vom Sommer her vertraut.
Wem wohl die kalten Tage nützen?
Was gestern lebte ist heut taub.
Und in den schmutziggrauen Pfützen
ertrinkt der Bäume welkes Laub.
Was ist das Ziel in diesem Spiel,
das der Natur seit je gefiel?
An ein paar Zweigen hängen Blätter,
die heut Nacht der Wind vergaß.
Den Pavillon versperren Bretter,
wo manches Liebespärchen saß.
Sogar die Nester in den Bäumen
sind ohne Leben, ohne Sinn.
Und mir alleine bleibt das Träumen,
weil ich ein Mensch mit Träumen bin.
Was ist das Ziel in diesem Spiel,
das der Natur seit je gefiel.
Ich bin auf einmal so alleine,
wo ist das Glück, das hier begann?
Die kahlen Bäume und die Steine
die schaun mich durch den Regen an.
Ich suche oben in den Sternen
ein wenig Trost für mein Geschick.
Doch der, der Trost sucht, sollte lernen,
er ist vergänglich wie das Glück.
Was ist das Ziel in diesem Spiel,
das der Natur seit je gefiel.
Doch aus Verzweiflung wächst das Hoffen,
das uns die Kraft zum Atmen schenkt.
Zwar bleiben viele Wünsche offen,
weil irgendwer das Schicksal lenkt.
Solange hier bei uns auf Erden
man einen Hauch von Leben spürt,
sorgt das Schicksal für das Werden
und gibt das Glück, wem Glück gebührt.
Das ist das Ziel in diesem Spiel,
das der Natur seit je gefiel.

[Lied Alexandra 1968, Bild Joken 2022]

What is love?

Der Spielfilm «Drii Winter» wurde in den Urner Bergen im Isental gedreht und weil der Regisseur ausschliesslich Laiendarsteller aus der Gegend einsetzt, wird die archaische Bergwelt und das Leben dort quasi ungekünstelt und direkt umgesetzt. Die tragische Liebesgeschichte wird episodenhaft von einem an antike Schauspiele erinnernden Chor gerahmt. Dieses im Folklore-Outfit auftretende Vokalensemble intoniert auf schönstem Schwyzerdütsch tieftraurige Lieder bis hin zur Todessehnsucht vor einem landschaftlich zwar immer pittoresken, aufgrund von Schneegriesel, fallendem Regen und nackten Fels gleichwohl zunehmend Kälte vermittelnden Hintergrund. Eleganter Kunstgriff, Respekt.

Besamung

Oh baby, don′t hurt me

Eine Erkrankung lässt die Handlungen des zugezogenen Knechts vermehrt unberechenbar und gefährlich werden, so dass dieser aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen wird. Sowieso gehört man üblicherweise erst zum Dorf, wenn man drei Winter (!) zusammen verbracht hat. Erst dann ist man akzeptiert. Durch den wiederholten Einspieler des Euro-House-Megahits «What is love?» von 1993 wird das Mundartliche gleichsam gebrochen wie die kritische Frage nach der Belastbarkeit von Liebe gestellt. Es ist verblüffend zu sehen, wie die Laienschar selbst heikle Szenen souverän meistern. Der Regisseur muss sich im Vor- und Verlauf viel Vertrauen erarbeitet haben, sicherlich begünstigt durch die bekanntlich eher offene und zugewandte Art der Ürner.

Don′t hurt me no more

Ein bei aller Schlichtheit ziemlich tiefgründiger Film, der ausgesprochen gut zur kargen Landschaft passt. Persönlich eindrücklich, da bekannte Gesichter auftauchen; besonders rührend ein Kurzauftritt vom Gitschener Ureinwohner Sepp, in gewisser Weise eine Art filmischer Unsterblichkeit. Ohnedies drängte sich die eine oder andere Träne in die Augen – doch das muss dramaturgische Absicht (Drii, Falschbeschuldigung, Fenster für Seele öffnen) gewesen sein. Ein Film als wahres Goldstück.

Goldige Versuchung

186 Kilo pures Gold waren für 14 Stunden unter freiem Himmel in Zürich zu bewundern. Ein kniehoher 12-Millionen-Franken-Würfel lockte Flaneure, Neugierige und FOMOs an: Schnappschüsse, Selfies, betatscht, beäugt, geteilt und manch einer wollte sich sogar draufsetzen. Aber vier Seiten vier Wachen wie bei toter Queen und Securitas versteht keinen Spass. Der Künstler Niclas Castello sagte mir bislang nichts und das achteckige goldene Kalb wollte mir auch nichts sagen. Dass das etwas vulgäre Werk von der Glockengiesserei Rüetschi gefertigt wurde, amüsierte immerhin.

«Fühlt sich an wie Plastik!» entfuhr es einer Kundin, «Aber schön warm!» entgegnete ein anderer. Dem kindischen Begrapschen widerstand ich aufgrund der offensichtlich akuten Ansteckungsgefahr vom legendären Goldfieber tapfer und wiegte derweil beim Abschied meine Gedanken leicht versonnen im Takt von good old Goethe…

Was hilft Euch Schönheit, junges Blut?
Das ist wohl alles schön und gut,
Allein man lässts auch alles seyn;
Man lobt Euch halb mit Erbarmen.
Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach, wir Armen!

(Margarete in Faust I)

Kunstlinge

An extraterrestrial Arty-Farty-Party

Le Voyage dans la Lune (1902)

Als erstes «offizielle» Kunstwerk auf dem Mond wird das Werk von Sacha Jafri deklariert, welches zum Ende des Jahres auf dem Mond platziert werden soll. «We Rise Together – with the Light of the Moon» ist eine güldene Plakette, welche als digitale Kopie in Form von NTFs auch auf der Erde versilbert werden soll.

Die erste künstlerische Hinterlassenschaft auf dem Erdtrabanten bleibt jedoch Paul van Hoeydoncks «Fallen Astronaut», welche 1971 in Gedenken an die tödlich verunglückten Opfer der Raumfahrt durch die Apollo-15 Mission auf dem Mondboden installiert wurde. Und sogar noch etwas früher, nämlich zur zweiten Mondlandung im November 1969 soll bereits das erste «Dick Pic» den Mond besucht haben.

Die spinnen, diese Erdlinge!

Dann gibt es nur eins!

Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützengewehre montieren, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Besitzer der Fabrik. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst statt Puder und Kakao Schiesspulver verkaufen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Forscher im Laboratorium. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Dichter in deiner Stube. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Liebeslieder, du sollst Hasslieder singen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Arzt am Krankenbett. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst die Männer kriegstauglich schreiben, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Pfarrer auf der Kanzel. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Kapitän auf dem Dampfer. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keinen Weizen mehr fahren – sondern Kanonen und Panzer, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Pilot auf dem Flugfeld. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst Bomben und Phosphor
über die Städte tragen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Schneider auf deinem Brett. Wenn sie
dir morgen befehlen, du sollst Uniformen zuschneiden, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Richter im Talar. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst zum Kriegsgericht gehen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransport, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:

Sag NEIN!

Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:

Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Denn wenn ihr nicht NEIN sagt, wenn IHR nicht nein sagt, Mütter, dann: dann:

In den lärmenden dampfdunstigen Hafenstädten werden die grossen Schiffe stöhnend verstummen und wie titanische Mammutkadaver wasserleichig träge gegen die toten vereinsamten Kaimauern schwanken, algen-, tang- und muschelüberwest den früher so schimmernden dröhnenden Leib, friedhöflich fischfaulig duftend, mürbe, siech, gestorben –

die Strassenbahnen werden wie sinnlose glanzlose glasäugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Strassen –

eine schlammgraue dickbreiige bleierne Stille wird sich heranwälzen, gefrässig, wachsend, wird anwachsen in den Schulen und Universitäten und Schauspielhäusern, auf Sport- und Kinderspielplätzen, grausig und gierig, unaufhaltsam –

der sonnige saftige Wein wird an den verfallenen Hängen verfaulen, der Reis wird in der verdorrten Erde vertrocknen, die Kartoffel wird auf den brachliegenden Äckern erfrieren und die Kühe werden ihre totsteifen Beine wie umgekippte Melkschemel in den Himmel strecken –

in den Instituten werden die genialen Erfindungen der grossen Ärzte sauer werden, verrotten, pilzig verschimmeln –

in den Küchen, Kammern und Kellern, in den Kühlhäusern und Speichern werden die letzten Säcke Mehl, die letzten Gläser Erdbeeren, Kürbis und Kirschsaft verkommen – das Brot unter den umgestürzten Tischen und auf zersplitterten Tellern wird grün werden und die ausgelaufene Butter wird stinken wie Schmierseife, das Korn auf den Feldern wird neben verrosteten Pflügen hingesunken sein wie ein erschlagenes Heer und die qualmenden Ziegelschornsteine, die Essen und die Schlote der stampfenden Fabriken werden, vom ewigen Gras zugedeckt, zerbröckeln – zerbröckeln – zerbröckeln –

dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge, antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästernd, klagend – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen, durch die geborstenen Ruinen wehen, versickern im Schutt der Kirchen, gegen Hochbunker klatschen, in Blutlachen fallen, ungehört, antwortlos, letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch – all dieses wird eintreffen, morgen, morgen vielleicht, vielleicht heute nacht schon, vielleicht heute nacht, wenn – – wenn – –

wenn ihr nicht NEIN sagt.

Wolfgang Borchert, Dann gibt es nur eins! (1947)
Aus: Wolfgang Borchert, Das Gesamtwerk, S. 528.
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