Reiselust
Das europäische Zentrum für hochenergetische Teilchenphysik mit dem zwischen Frankreich und der Schweiz 100 Meter tiefergelegten weltweit längsten Teilchenbeschleuniger war das Traumziel – der Large Hadron Collider – die grösste Maschine, die je von Menschenhand erbaut wurde.
Mit dem Zug ging es durchs nette Fribourger Werteland, wo gleich drei (3!) Füchse auf freier Wildbahn aus dem Zugfenster erspäht werden konnten. Kurz später dann auf der Corniche der grandiose Ausblick auf den Lac Léman, wenn einen die Aussicht auf die aufgrund der Rhône-Mündung leicht türkis glitzernde Côte mit der Haute Savoie auf französischer Seite fast blendet. Eines der tatsächlich schönsten Motive der Postkarten-Schweiz, drüben die Bergriesen in Frankreich, etwas hinten dann der gigantische Mont Blanc, der bei Lausanne ziemlich breite See, welcher sich in Fahrtrichtung Genf leicht verengend krümmt. Auf Schweizer Seite die zahlreichen Weinberge des Laveaux, links die sich erhebende Pforte ins pittoreske Wallis und rechts der Höhenzug des Mittelgebirges Jura. Bald rückt dann der Jet d`eau in Genf mit seiner 140 Meter hohen Wasserfontäne ins Bild. Beim Staunen aus dem Fenster fiel mir ein, dass es tatsächlich 10 Jahre her sind, seit ich zuletzt diese Tour machte.
Durstiges Abenteuer
Geplant war eigentlich (ja genau, dieses Wort deutet wie meist das schiere Gegenteil an) die Strecke des unterirdischen Teilchentunnels ausgehend beim Besucherzentrum des Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN), dem in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg gegründeten Zentrum für die (friedliche) europäische Kernforschung, oberirdisch mit dem Fahrrad zu befahren. Es gibt eine 55 Kilometer lange Velotour und wohlweislich wurden extra dafür (Höhenmeter!) E-Bikes am Bahnhof Genf reserviert, damit auch meine genetisches Mitteilchen Lust an der Sache gewänne. Doch an einem der heissesten Tage dieses Sommers war jenes Unternehmen vielleicht doch etwas zu gewagt und wir stellten das Programm grosszügig um. Die sorgsam recherchierte Tour ist aufgehoben, aber natürlich nicht aufgeschoben, versprochen! Zumal im Herbst das neue Besucherzentrum beim CERN öffnen wird…
Velocity
Das E-Biken selbst macht zugegeben schon ganz schön viel Spass; so ein sanfter Teilchenbeschleuniger im Hintern ist eine zwar dem Zeitgeist entsprechend leicht hedonistische, doch durchaus angenehme Anschuberfahrung. Quasi Warp für Arme, ein weitgehend schweissfreies obschon Nabelschnur gebundenes Versprechen aufs Perpetuum mobile, eine auf Kinderarbeit basierte überhand nehmende Seuche und dabei permanent auf der Veloüberholspur. Und tatsächlich – wer bremst verliert. Kavalierstart, gelbdunkelrote Ampeln und andere Verkehrsdelikte sind gewissermassen immanent, wenn Energie im Überfluss vorhanden ist. Typisch Entropie halt. Schlussendlich redigiert das Chaos die Verwässerung.
Particle of the Universe
Beim CERN angekommen stand zunächst der Besuch des Science Doms an, eine multimediale und interaktive Ausstellung zum direkt an der Landesgrenze gelegenen Olymp der internationalen Gilde der Teilchenforscher. Schön haben sie potente Sponsoren für das schicke Gebäude gefunden, ein vorbildlich recyceltes Relikt von der Schweizer Landesausstellung Expo.02.
Kulturell interessant und etwas belustigend die bekanntlich meist dramatisierenden Wortschöpfungen in Sachen CERN: Urknallmaschine, Gottesteilchen sowie die absurde Gefahr eines künstlich erzeugten schwarzen Lochs, als die damals völlig freidrehende und heute mutmasslich querdenkende Beschwerdeführerin 2010 vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht ihre unbegründete Angst vor einem Neustart des LHC ernsthaft verhandeln liess. Von mir aus hätte das CERN für derartige Clownerien gerne ein schwarzes Löchlein aus dem Hut zaubern können.
Unbekannt ist oft, dass das WWW wie wir es lange schon kennen und schätzen eben dort erdacht und entwickelt wurde. Bei insgesamt 23 beteiligten Nationen bestimmt nicht die schlechteste Kommunikationstechnik, zumal die überwiegende Mehrheit der Forscherinnen nicht in situ sondern remote mitarbeitet.
Im Science Dome konnten auf den Bildschirmen Infos abgerufen werden; nebenstehend die Ansicht von oben des grossen Teilchenbeschleunigers LHC, auf 11 Uhr der Flughafen Genf, Detektor LHCb nebenan. Standort Dome ist bei ATLAS auf 14 Uhr; ATLAS ist dabei der grösste der Teilchendetektoren. Jenes Gerät ist immerhin 25 Meter hoch und 46 Meter lang, Atlas hierfür Hilfsausdruck. Die Grösse und Vielschichtigkeit des Detektors sorgt dafür, dass sowenig Information wie möglich entfleucht und dafür alle möglichen und unmöglichen Teilchenteile aufgespürt und dokumentiert werden können. Irre gigantisch, irre responsiv, irre Teilchenphysik.
Rekordzahlen
An einem solch heissen Tag war gut zu wissen, dass sie vor Ort den kältesten Kühlschrank auf Erden haben – Minus 271 Grad, damit die supraleitenden Metalle quasi keinen inneren Widerstand bilden.
Nur so schaffen sie es dort die Protonen auf 99,9999991 % (!) der Lichtgeschwindigkeit mit Hilfe von Elektro-Magneten zu beschleunigen. Ob nachhaltig, später dann.
Während die Teilchen in dem 27 km langen Tunnel rasend schnell und zwecks beabsichtigter Kollision gegenläufig unterwegs sind, sind an vier Stellen sog. Detektoren aufgebaut, also Experimente, welche den Zerfall bzw. dessen Endprodukte aufspüren und messen. Dadurch versuchen die Wissenschaftlerinnen so nahe wie möglich dem Urknall auf die Spur zu kommen und bestenfalls herauszufinden, was die dunkle Materie (dunkel weil bislang unbekannt) ausmachen könnte.
Dunkle Materie und dunkle Energie (Variable Λ bzw. Lambda, jene bislang ebenfalls unbekannte kosmologische Konstante) haben tatsächlich 96% Prozent Anteil am grossen Ganzen – Lebewesen wie wir und sämtliche Materie in den Sternen und Gaswolken dazwischen machen hingegen gerade mal 4 % der Masse im Universum aus.
Wissen schafft Unwissen
Dies führt zu einer naheliegenden Paradoxie: je mehr man weiss, umso mehr weiss man nicht. Bekanntlich gibt es das Gewusste, das Wissen um das Unwissen und – als unsichtbare Kirsche auf der Sahne – das Nichtwissen um das Unwissen.
There are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – the ones we don’t know we don’t know. (D. Rumsfeld)
Fertigteilchen
Nach der Laune machenden multimedialen Lerneinheit folgte das ermüdend lange Warten an der Rezeption, um einen der Zutrittscodes für die 90-minütige Führung zu erhalten. First come first serve and no online booking stand auf der Homepage; schlechte Erfahrungen hätten zu dieser nicht eben gastfreundlichen Prozedur geführt. Sollen sie doch nen Taler nehmen dafür, könnten sie wieder ein Kilo Strom davon kaufen. Vielleicht aber auch Deal mit den Steuerzahlern. Jedenfalls verblieb nach erfolgter Registrierung und Start der Kurztour ein Bruchteil Zeit für einen persönlichen Teilchentest.
Dieser erfolgte jenseits der Grenze direkt bei einem Carrefour, der dank der schnellen Elektronen via Velo in Nullkommanix erreicht wurde. Die Teilchen wurden für ganz passabel befunden und die mechanische Spaltung erfolgte geschwind. Etwaige Zerfallsprodukte konnten nicht eindeutig detektiert werden, zu süss und klebrig war die Masse.
Radioactivity – is in the air for you and me
Flugs retour bei der Führung wurde uns dann ein mittlerweile ausser Dienst gestellter ehemalige Teil eines Beschleunigers plus Detektor gezeigt; leider ist es für Laien nicht möglich unter die Erde zu gelangen, um das aktuelle Gerät vor Ort in Augenschein zu nehmen. (Dort wäre ebenfalls eine Velotour möglich, Radweg wäre vorhanden) Hehres Ziel bleibt, beim nächsten Besuch nicht mehr ganz als Laie zu gelten.
Bei der Fragerunde zum Abschluss im hübsch ausgeleuchteten Teilchendetektor stand unsere Führung Rachel auffallend weit vorne an der leicht geöffneten Türe nach draussen, als sie eine Frage nach Radioaktivität bejahte und mitteilte, dass erst seit 10 Jahren der Besuch zu der Alt-Anlage überhaupt möglich sei. Eine Rest-Strahlung sei dabei noch immer in der von ihr entferntesten Ecke des Raumes messbar. Darum also stand sie im heissen aber strahlungsarmen Türspalt! Sicher reiner Vernunftsentscheid, macht man mehrere Führungen pro Tag.
Tatsächlich hatte ich das Warnschild hinten glatt übersehen, wahrscheinlich wegen der bereits erhaltenen heftigen solaren Strahlendosis eines glühenden Sommertages. Vielleicht aber auch, weil es im nur spärlich beleuchteten Raum auf etwa Kniehöhe angebracht war. Dosimeter gab es keine zum Zugangs-Badge.
Gescheites Werkzeug immer wichtig beim Forschen; beim jährlichen Boxenstopp der vibrierenden Teilchen werden die Muttern der Röhre dann alle wieder schön festgeschraubt.
Gigantonomie
Das Graffity am Kontrollzentrum gibt ungefähre Grössenvorstellungen von ATLAS wieder, virtueller Rundgang dort. Die Anlage selbst wird im 3-Schicht Betrieb rund um die Uhr gefahren, Wartungsarbeiten sind jeweils im Winter (wegen Strombedarf, der übrigens aus Frankreich kommt – Atom, ick hör dir trapsen).
Das Forschungszentrum CERN benötigt laut Rahel ein Terawatt pro Jahr; gemäss Wikipedia beläuft sich die installierte Windkraftleistung ganz Europas (Stand 2022) auf 255 Gigawatt, gerade ein Viertel der allein vom CERN benötigten elektrischen Energie. Sie wollen aber künftig Strom sparen, versprach unsere Tour-Guide. Das Aufspüren des Higgs-Boson in 2012 war der bisherige Höhepunkt am CERN. Ein Lego-Modell von ATLAS mit der Unterschrift des zum Ritter geschlagenen Peter Higgs steht in einer Vitrine und auch im Kontrollzentrum (vorne rechts unten).
Alle Signale standen auf grün, die Teilchen rotieren fröhlich vor sich hin und das Higgs-Feld jubiliert. Das ist nämlich das wirklich verrückte an diesem Boson: es hat selbst gar keine Masse, verleiht aber anderen Teilchen welche durch das von ihm erzeugte Feld. Quantentheoretische Mechanik halt. Für mich eine weiterhin rätselhafte Welt von obskuren Partnerteilchen ohne feste Bindung. Ganz zu schweigen von irgendwelchen Austausch- oder gar Geisterteilchen.
Geht doch: bei über 23 Billiarden Kollisionen immerhin fast 12 Millionen Higgs-Bosone;
macht 1 Higgs pro 1,988916 Milliarden Bangs, falls der Taschenrechner nicht schwindelt.
Einen netten Einblick in den ATLAS-Detektor, dessen Grösse und Installation sowie die Arbeit vor Ort nebst immanenten wie frustrierenden Nicht-Wissen gibt der erst jüngst veröffentlichte und hochinteressante Vortrag aus der LMU München von Prof. Dr. Otmar Biebel auf Youtube.
Der Kanal Urknall, Weltall und das Leben, auf welchem das obige Lehr-Video veröffentlicht wurde, ist übrigens immer einen Besuch wert. Man erhält hier mehrmals pro Woche durch fachkundige Überbringer interessante Botschaften aus dem Kosmos und darüber hinaus. Keineswegs Nerdfunk, sondern faktenbasierte Wissenschaft für wissbegierige Laien. Dem aufrichtigen Kommentar von User @faktisletztenendes kann ich mich bedenkenlos anschliessen: «Ich bin so dankbar, dass es diesen Kanal gibt, er bewahrt mich vor der vollkommenen Verdummung. Ich behaupte nicht, dass ich alles verstehe, aber zumindest macht es mich nicht blöder als ich bin. Danke für eure Angebote.»
Grösser, schneller, weiter
Der wissenschaftliche Fortschritt erscheint fast wie Hase gegen Igel, Theorie gibt vor und der Praxistest verifiziert anschliessend. Oder auch nicht. Wie viel Wunsch ist wohl hier die Mutter der Gedanken? Sabine Hossenfelder bemängelt schon länger die Überhandnahme der theoretischen Wissenschaft und die Mängelliste der ungelösten physikalischen Probleme ist mittlerweile ziemlich lang geraten. Nach Hossenfelders Überzeugung «sind die zahlreichen Postulate neuer Teilchen typisch. Darin macht sie ein karriereförderndes Schema aus: Man identifiziere ein bekanntes offenes Problem, das auf natürliche Weise durch Einführung eines neuen Teilchens gelöst werde, wobei es von Vorteil sei, dieses mit Eigenschaften auszustatten, die erklärten, warum es bisher nicht entdeckt worden sei und warum das in nicht allzu ferner Zukunft doch möglich sein werde. Durch Modifikation der Eigenschaften könne dieser Zeitpunkt immer weiter in die Zukunft hinausgeschoben werden» (aus Hossenfelders-Wikipedia Eintrag).
The Lords of the Ring
Um entscheidend weiterzukommen – durch mehr Energie und mehr Radius – wollen die Kern-Wissenschaftler gerne einen 100 Kilometer-Ring bauen, falls die europäischen Steuerzahler dies genehmigen. Ein Beschluss zum Future Circular Collider soll möglichst vor dem Ablauf der erwarteten Einsatzzeit des LHC Mitte der 2030er Jahre fallen. Die Kosten pro Einwohner der internationalen Trägerschaft belaufen sich momentan auf einen Kaffee pro Person pro Tag rechnete die rasend schnelle Führerin lapidar vor. Vielleicht käme dann noch Gipfeli dazu, rechne ich im Stillen weiter. Dabei haben die CERN-Wissenschaftler bereits heute eine Datenmenge, welche erst 2040 abgearbeitet sein wird. Doch vielleicht hilft die eine oder andere Besucherin ja bald mit.
Noch Fragen?
Ob wirklich alle Menschheitsfragen durch die Forschung im CERN beantwortet werden können, bleibt zweifelhaft. Wobei dies gar nicht nötig wäre und ein Rest Geheimnis als immer währendes Rätsel gewissermassen durchaus ein geistiger Gewinn sein könnte. Ob als Spielfeld für Religion, Philosophie oder andere Rituale bliebe hierbei egal. Ein Leerfeld muss nicht immer zwingend besetzt werden, selbst wenn der menschliche Forschungsdrang und Wissensdurst dies so sehr erstrebt. Dass die Redundanz unserer geistigen Kapazität überhaupt erlaubt über die reine Lebenserhaltung hinaus grosse Fragen stellen zu können, könnte ein Fingerzeig der Evolution in Richtung kosmischer Achtsamkeit sein.
Peace out.