Reines Welttheater

Das traditionsreiche Welttheater auf dem Klosterplatz in Einsiedeln feiert den 100sten, wobei – genötigt durch die Seuchenjahre – die Spiele um vier Jahre verzögert erst darum punktgenau im Jubiläumsjahr landen konnten. Ein Spielvolk von 500 Laien aus dem Ort agiert unter professioneller Anleitung den Sommer über vor der barocken und gewaltigen Kulisse der Klosterkirche der Benediktinerabtei. Angelehnt an das Werk von Pedro Calderón wird das einst streng christliche Lehrstück seit 1924 ungefähr alle zehn Jahre gegeben und dabei erst seit 2000 allmählich in etwas zeitgemässere Formen überführt, was nicht ganz ohne Reibungen geschieht, da das Kloster selbst ein gewichtiges Wort bei Planung und Durchführung mitzureden hat. Für die 2020 geplante Aufführung wurde Schriftsteller und Theatermacher Lukas Bärfuss engagiert, der quasi ausgehend von der Unmöglichkeit eines Welttheaters in heutiger Zeit trotz der Warteschleife eine eindrucksvolle Interpretation schuf.

Für die vorletzte Aufführung dieser Saison konnte noch geschwind ein Ticket ergattert werden und voller Vorfreude ging es in hoch in den Kanton Schwyz, zumal das spätsommerliche Wetter versprach ebenfalls mitzuspielen. Gleich beim Verlassen des Zubringerzuges wurde – hallo Kulturschock – die würzige Landluft mit diesem leichten, dem Städter fremden Odium von mindestens Tier bis frisch ausgebrachter Jauche vor der nahenden Regenzeit olfaktorisch deutlich.

Auf der Tribüne dann direkt neben meinem Platz eine Freiwillige von Arbeiter Samariter Bund Einsiedeln, die das Stück bereits achtmal unfallfrei sehen durfte und zur Dernière anderntags verdientermassen zur Belohnung einen Ehrenplatz in der Loge erhält. Wenn ich gross bin werde ich auch Samariter…

Ein König, ein Bauer, ein Reicher, ein Armer, die Schönheit und die Vernunft sind die ursprünglich vorgesehen Parameter des spätmittelalterlichen Stückes. Eben jene symbolhaft dargestellte Metaphern seien laut der Figur des Regisseurs – welcher in der heutigen Version quasi Gott ersetzt – nicht gewillt weiterhin mitzuspielen. Die Geschichte sei schlicht auserzählt und das Welttheater daher abgesagt heisst es lapidar. Ein Junge und ein Mädchen sind für die Rolle der ungeborenen Kinder eingeplant und daher über die kurzfristige Annullierung masslos enttäuscht. Das junge Mädchen möchte die Absage jedoch trotzig nicht akzeptieren, will unbedingt spielen und nur dank ihres unbändigen Willens sowie der gütigen Mithilfe einer harlekinesk die Welt verkörpernden Schauspielerin beginnt der Reigen dann doch noch. Die ehrwürdigen Protagonisten akzeptieren und nehmen ohne weiter mitzutun in ihrer den Kontrast zur Jetztzeit verstärkenden altertümlichen Kostümierung auf einer Seitenempore eine passive Zuschauerrolle ein, nur um im Verlauf des Abends eine(r) nach dem anderen abzutreten, um derart szenisch einen Punkt oder gar Rufzeichen zu setzen. Bemerkenswert: lediglich die Schönheit verweilt bis zuletzt im Stück und räumt ihren Platz nicht.

Das junge Mädchen wird im Verlauf des Stückes mehrmals durch jeweils ältere Versionen bis hin zur Greisin ersetzt und allen gemeinsam führt das Streben nach Glück, Macht, Reichtum und Schönheit durch Höhen und Tiefen bis zur finalen Erkenntnis der eigenen Endlichkeit. Der Kreis schliesst sich, als alle Versionen des Mädchens zusammen auftreten, die älteren Versionen vom Tod begleitet abtreten und nur das Mädchen unbedingt weiter «spielen» möchte und lautstark nach Spielkameradinnen ruft. Nach einer kurzen Pause bangen Wartens kommen schliesslich aus allen Ecken des riesigen Platzes Kinder angerannt und das Spiel beginnt so von neuem, endet aber an jenem Abend in einem grossen Finale aller Beteiligten.

Eine tolle und wichtige Rolle spielte bei der Aufführung Musik und Gesang, live von einer vorzüglichen Kapelle mit kompetenten Sängerinnen plus Chor vorgetragen. Licht und Sound weben ein dichtes Netz, Rauch- und Knalleffekte sowie aufsteigende weisse Tauben akzentuieren überraschend und geschickt die Handlung. Die Bildersprache rauschhaft: Aufmärsche mit roten Fahnen, Verslumung durch Verelendung, martialische Totalität durch Grössenwahn, Bilderstürmerei und Klosterraub, schockierende Kinderschändung und eigene Ignoranz – alles da und nichts bleibt unerwähnt. Welttheater halt und grandios nur Hilfsausdruck für das imposante Licht- und Schattenspiel vor und auf der klösterlichen Kulisse. Mehrfach sorgen auf einer Art Metaebene slapstickhaft auftretende Bühnenarbeiter im Lauf des Stückes für eine humorvolle Erdung.

Das Mysterienspiel in jener stark modernisierten Fassung war einfach phänomenal und die Spielfreude der Laien ansteckend. Wohltuend zudem, dass an einem eigentlich recht konservativen Ort eine progressive Weltsicht soviel Zuspruch finden kann; anscheinend gar kein Widerspruch in der Ruralität oder einer, welcher womöglich nur im bornierten Städter haust. Auch das anfänglich irritierende Odium war zum Ende hin gar nicht mehr spürbar, und so ging es doppelt immunisiert wieder runter ins Tal mitsamt den vielen glücklich verzauberten und dankbaren Festspielbesuchern in einer übervollen Südostbahn.

Werbewirkung

In einer Ausstellung im Museum für Gestaltung in Zürich wird Oliviero Toscani mit einer Retrospektive bedacht, welche erstmals sein gesamtes Werk umfasst. Der ab 1983 als Werber für Benetton bekannt gewordene Fotograf, Creative Director und Bildredakteur hat ohne vorherige Deutschkenntnisse seine Ausbildung an der Vorgängerin der ZHDK in den 1960ern gemacht und damit die Basis für seine internationale Karriere gelegt. Nach einem Stipendium in den USA kam er in Kontakt mit Andy Warhol und dessen legendärer Factory. Aus jener Zeit stammen auch die meisten Portraits der Ausstellung, die in Zürich gezeigten spätere Arbeiten umfassen beispielsweise die Bildwände «United Colors of Sexes» von 1993 zur Biennale.

Die kontroversen Kampagnen für das italienische Modehaus Benetton thematisierten Gender und Rassismus, Ethik und Ästhetik. Teilweise wurden die schockierenden Plakatmotive vor Gerichten verhandelt, oft verboten und vielmals geächtet, wobei sie gleichzeitig immer Gesprächs- und Diskussionsstoff boten. Den Vorwurf er wolle mit seinen Eyecatchern Pullover verkaufen konterte er damit, dass er mit den Pulloverkampagnen gesellschaftliche Realität abbilden wolle. Zum Tode geweihte AIDS-Kranke, brennende Autowracks nach einem Attentat durch die Mafia, blutgetränkte Kleidung eines Opfers im jugoslawischen Bürgerkrieg, Kopulation eines dunklen Hengstes mit einer weissen Stute. Was heute noch immer stark wirkt ohne zu verstören war damals meist Skandal. Die Bildsprache von Toscani bleibt weiterhin gut verständlich und als Werbung schlicht ikonisch.

Fernheilung

Die Spaltung der Gesellschaft in den Zeiten der Pandemie vertieft sich weiter. Krude Heilsversprechen und mannigfaltige Esoterik-Schwurbler boomen kräftig in diversen Parallelwelten. Angetrieben durchs Netz der Nischen findet sich für jedes Tierchen ein Pläsierchen. Hier ein zum Jahreswechsel auf dem CCC-Kongress in Hamburg gehaltenes Webinar zur Fortbildung in Sachen Eso-Business im Internet von Katascha (Katharina Nocum); weiterführendes Interview hier, erklärendes Buch dort.

Never again is now

Vorgestern wurde ein orthodoxer Schweizer Jude in der Stadt Zürich von einem Schweizer Jugendlichen mit islamistischen Hintergrund niedergestochen. Gestern Abend dann eine Mahnwache mit Schweigemarsch. Heute politischer Eklat im Regionalparlament und ein verworrenes Video samt Bekenntnis zum IS, aber auch Tacheles in der Presse.

Never again is now

Und morgen?

Prinzipiell versus Principality

Umsturz im Ländle?
Probleme fürs Fürstentum?
Erbmonarchie in Gefahr?
Scheint fast so.

Die angebliche Gründung einer Liechtensteiner Kommunistischen Partei wird von einem sog. Aktionsbündnis unterstützt, deren punkige Provokation im Netz der Dumpfbacken wiederum mit dem schlichten Wunsch nach «Todesstrof» goutiert wird. Putzig das.

Enshittification

Auf einem Vortrag zum Auftakt der Transmediale in Berlin benutzt der bekannte kanadische Netzaktivist und Autor Cory Doctorow seine in den USA zum Wort des Jahres gewählte Wortschöpfung «Enshittification» (≈ Scheissifizierung, Verschlimmscheisserung) zur Beschreibung jener Metamorphose, in welcher digitale Plattformen durch ein Produkt Versprechungen auslösen, diese jedoch nicht einhalten und in der Folge aufgrund ihrer Marktmacht solches Verhalten zu unzufriedenstellenden Erfahrungen der Beteiligten führt.

Doch ist dies nicht sowieso der normale Spielverlauf im kapitalistischen Monopoly?

So what’s enshittification and why did it catch fire? It’s my theory explaining how the internet was colonized by platforms, and why all those platforms are degrading so quickly and thoroughly, and why it matters – and what we can do about it.

We’re all living through the enshittocene, a great enshittening, in which the services that matter to us, that we rely on, are turning into giant piles of shit.

It’s frustrating. It’s demoralizing. It’s even terrifying.

I think that the enshittification framework goes a long way to explaining it, moving us out of the mysterious realm of the ‚great forces of history,‘ and into the material world of specific decisions made by named people – decisions we can reverse and people whose addresses and pitchfork sizes we can learn.

Enshittification names the problem and proposes a solution. It’s not just a way to say ‚things are getting worse‘ (though of course, it’s fine with me if you want to use it that way. It’s an English word. We don’t have der Rat für englische Rechtschreibung. English is a free for all. Go nuts, meine Kerle).

But in case you want to use enshittification in a more precise, technical way, let’s examine how enshittification works.

It’s a three stage process: First, platforms are good to their users; then they abuse their users to make things better for their business customers; finally, they abuse those business customers to claw back all the value for themselves. Then, they die.

Ohrenzeugenbericht dort, Bewegtbilder hier, Originalmanuskript da.


Abschliessend hier gleich noch ein Zitat aus einem aktuellen Newsletter, welcher die Heilsversprechen von Big Tech als arglistige Täuschung entlarvt:

Back then (2025) there was hope, a belief that these companies were building the future and selling it to us in a seemingly-honest transaction, and a level of trust that tech companies were so profitable because they were making cool stuff. Tech had banked a great deal of goodwill, adding depth and connectivity to our lives, making information easier to find and take action upon, delivering anything we wanted faster than we’d ever got it before. It was exciting to imagine what Apple, Amazon, or Facebook might do next.

Sadly, we found out. Big tech — with venture capital by its side — spent a decade mistreating, manipulating and misleading governments, consumers and the media in the pursuit of greed, taking advantage of society’s optimism in the name of eternal growth.

Edward Zitron

Stadt-Land-Graben

Nett dass es Schneller-Höher-Weiter-Teurer-Städte-Rankings gibt, doch für das rurale Leben im ländlichen Gebiet sowie im Trikont (ausser Harare) hat dies vermutlich nurmehr dialektischen Einfluss. Preistreiberei existiert in der kapitalistischen Mehrwertschöpfung schon immer und ist quasi systemisch. Die Singapurisierung der Schweiz und die Verschweizerung Europas wird weiter fortschreiten und sind dergestalt soziale Menetekel, die der künftigen Gesellschaft noch etliche Sorgen bereiten dürften. Die gegenseitige Abhängigkeiten von Energie, Nahrung und Arbeit werden die entstehenden Klüfte der Absurdität kaum überbrücken können und die zunehmende Tribalisierung der multiplen Blasen erschwert eine reibungslose Kommunikation und führt eher zu vermehrter Zuspitzungen. Und so wird das Verständnis füreinander auf unserer hübschen Erdeninsel nur noch mehr geschmälert.

Homo homini lupus.

Amen.

Heimatfront

Dass ein zerstörter Panzer vor der Russischen Botschaft Unter den Linden ein beeindruckend drastisches Bild abgibt ist offensichtlich. Dass es Menschen mit seltsamen Ansichten gibt ist geschenkt; dass es sich bei der Kundgebung von Alice & Sarah am Brandenburger Tor in Berlin um eine trübe Mischung handelte, kann ich so nicht bestätigen – im Gegenteil wurde beispielsweise der stramm neurechte Stinkstiefel Elsässer noch vor Beginn erkannt, von einer Gruppe der Linken unter den Augen der Ordnungshüter isoliert und gelangte so gar nicht erst auf das eigentliche Gelände. Bibeltreue Fundamentalisten hingegen waren erkennbar. Dass Frau Wagenknecht Populismus ganz gut kann ebenfalls geschenkt. Dass Schwarzer und ihr mangelnde Abgrenzung vorgeworfen wird ist reine Diffamierung und absichtliche Propaganda. Dass weder naiv noch blauäugig Frieden trotzdem unbedingt gesucht werden muss ist bitter nötig, seitdem er verloren wurde.