Traumaberg

Gleich beim ersten ernsthaften Einsatz am Berg in der vom Wetter prima unterstützten alpinen Auszeit kam die erkenntnisreiche Erinnerung noch weit vor dem Gipfelziel jäh wie ein Blitz. Im Zwiegespräch bergan tauchte wie so oft die Frage nach dem Warum auf. Warum schwitzen, schnaufen, quälen. Warum die permanente aerobe Kontrolle und warum bist du eigentlich hier. Die Verlockung auf Aussicht? Oder etwa Traumabewältigung?

Kinderlandverschickung

Jene Massnahme sorgte für Furcht vor, während und noch lange nach dem Aufenthalt in Oberstdorf im Allgäu. Fünf quälend lange Wochen dauerte die Zeit in einem ärztlich verordneten Kinderheim. Mehrbettzimmer, alle anderen Jungs älter und grösser. Haut auf der Frühstücksmilch, Kümmelgeschmack im Marmeladebrot, viele Wanderungen und tägliche Bewegung an der frischen Luft. Zum ersten Mal im Leben wurde vom Stadtkind dort Kuhdung gerochen. Und das täglich und ausgiebig. Kühe aber interessant, die hatten laut schellende Glocken um den Hals.

Für den gerade noch Sechsjährigen ein gravierender Einschnitt – der Abschied bei der Übergabe im Stuttgarter Bahnhof war schlimm und voller Trennungsschmerzen. Lange hielt sich der Gedanke an eine Art familiärer Verstossung. Warum sonst musste ich so weit weg in eine bergige Gegend, von der der Kinderarzt überzeugt war, dass sie die Konstitution stärke. Gut 20 Jahre vorher hat der doch bestimmt die Tauglichkeit der Hitlerjugend attestiert. Mir kleinem Pimpf hatte er bereits Lebertran verordnet. Lieber Lebertran als Berge, soviel stand fest. Doch Doktor Herz setzte die Verschickung durch, war diese nicht auch ein Relikt aus dem schrecklichen Reich?

Post-Allgäuer Drama

Von den Eltern wurde ein wenig Sackgeld mitgegeben, das als grosser Schatz angesehen wurde, welcher unbedingt der Wachsamkeit bedurfte. Waren es ein Fünfmarkschein oder deren zwei? Jedenfalls reichte es für eine Ansichtskarte, für die beim Schreiben noch Hilfe der dortigen Schwestern benötigt wurde; die Einschulung folgte dann erst im Herbst darauf. Dass die Miniatur-Kuhglocke, welche fast täglich durch die Schaufensterscheibe des Souvenirgeschäfts angestarrt, taxiert und natürlich erst nach mindestens ebenso oftmaligem Nach- und Durchrechnen (Budget!) ausgewählt und unter meiner Zeugenschaft eingepackt wurde (Schwestern halfen beim Kofferpacken am Vorabend der Abreise) nach der freudigen Rückkehr aus dem Straflager beim Kofferöffnen nicht mehr im dem selbigen aufzufinden war – Drama pur!

Abgrundtiefe Traurigkeit gepaart mit blankem Entsetzen gefolgt von massloser Enttäuschung, fiel doch der Verdacht auf die grossen Jungs im Mehrbettzimmer, die bestimmt die Glocke aus dem Koffer nahmen, als ich schlief. Anders war dieses Ungemach nicht zu erklären, zumal ein Film von der in Seidenpapier eingewickelten Glocke am bestickten Lederband zuoberst im Koffer immer wieder ablief. Allgäuer Aufenthalt also recht bescheiden und nun blieb nicht mal ein Andenken.

Bergecho

Als 30 Jahre später der Corvatsch in Bünden heimtückisch mit einem Kreislaufkollaps drohte, weil leichtsinnig schnurstracks auf 3.300 hoch gegondelt wurde, half schnell die Büchse Cola, um gerade wieder genesen an der Talstation noch den ehrfürchtigen Blick eines orthodoxen Jünglings auf das IDF-Shirt zu erhaschen. Nein, mit Bergen schien weiterhin keine Symbiose möglich.

Wenig später dann ein Trip nach Südtirol und die hübsche Terrasse des Ausflugslokal zeigte Bergsicht auf die Dolomiten oder sonst was, jedenfalls live mit einem wohl gealterten und kenntnisreichen Luis-Trenker-Verschnitt bei Speis & Trank rustikaler Art öffnete die Augen auf etwas, was zuvor nicht gesehen oder vielmehr spürbar war: nämlich Resonanz.

Denn fast nichts macht mehr Freude, als den Kampf mit sich selbst im Einklang zu beenden. Und wenn dies im Interim zwischen Erde und Himmel geschieht, entsteht dabei manchmal sogar eine Art Wohlklang, eine derart positive Schwingung mit der umgebenden Natur, dass vielleicht gar ein Juchz entfleucht. Und dazu dann gerne ein Gewürzbrot mit süssem Aufstrich, aber bitte keine Milch mit Haut.

 

Herbstfrische

Anreise

Die Südostbahn nach Locarno wegen Röhrenproblem im Gotthard wie üblich gut besucht. Am Urner See wurde einer Mitreisenden, die im Hang auf ihrem Koffer sass der eigene Sitzplatz angeboten. Sie um 10 Uhr erkennbar nicht ganz nüchtern, lehnte aber ab, da sie ihr Quantum Schnaps noch in Ruhe goutieren wollte. Litt wohl an Reisefieber auch.

Der Pronto Shop am Etappenziel hat täglich von 6 bis 23 Uhr geöffnet, Transitstrecke halt und praktisch für die Kalorienzufuhr. Auto Uri hat das Postauto ersetzt und die Frequenz auf Stundentakt erhöht. Leider aber entfällt nun der Transport der Milchkannen auf dem Anhänger; schade aber auch, Hänger wäre sicher praktisch für Velo-Verlad.

Obwohl die Kabine der Seilbahn mit nur sieben Personen (davon zwei Kindern) besetzt war, wurde die Frage nach einer Mitfahrgelegenheit mit einem kategorischen NEIN verweigert. An der Kabine ist die maximale Personenanzahl mit acht angeschrieben. Egal, die Gondeln waren fast non-stop unterwegs, da eine Hochzeitsgesellschaft oben feiern wollte. Mit einigen dazu eingeladen Twens, meist in Pärchenform, ging es dann nach oben, natürlich zu acht.

Reisestress

Oben wurden die Rinderherden sichtlich nervös und schon etwas erregt, als die Reisetasche wegen schierem Übergewicht auf Rollen den Pfad entlang donnerte. Die Reaktion der Bullenherde sorgte für eine gewisse Anspannung, da beruhigendes Zureden nicht half – es wurde munter weiter geblökt und von überall kamen immer neue Tiere im Galopp an den Weg, schauten und schnaubten.

Aber gut gibt es diese dünnen Bänder mit oder ohne Strom, welche meist rhythmisch schnalzen und die konditionierten Tiere tatsächlich auf kurze Distanz hielten. Auf dem etwas begrasten Mittelstreifen gewechselt machten die Rollen nurmehr gedämpften Lärm, die Tiere muhten nun nicht mehr, aber gaben weiterhin beidseitigen Geleitschutz der erst endete, als eine weitere Begrenzung der Weide erschien, auf die tapfer und zielsicher zugehalten wurde. Die Viecher blickten dem Störenfried noch lange nach, selbst als nach einem halben Kilometer der Hügel zum Ferienhaus erklommen wurde. Sicherheitshalber wurde die direkt vor dem Domizil liegende Jungbullen-Weide gar nicht erst nicht gequert, sondern wagemutig ein Stück Stacheldrahtzaun hochbeinig überstiegen. Doch was musste bei der Gepäckaufgabe festgestellt werden – die an den Henkeln der Rumpelkiste angebrachten Renegades waren weg! Fressen Rinder Lowa?

Durchreise

Keine allzu grossen Sorgen, war der grosse Bruder von Meindl ja ebenfalls am Start und fix an den Füssen montiert, da die Vollledernen schlicht zu schwer fürs Gepäck. Und sowieso stand noch ein Trip ins Reusstal an, da das am Bahnhof parkierte Velo noch abgeholt werden sollte. Und beim Abstieg siehe, beide Lowa nicht verfuttert sondern warteten brav nebeneinander am Wegesrand. Mit Auto Uri also wieder runter, vorbei am Tag der offenen Tür bei Weltmarktführer GIBO AG, der erstaunlich viele Ürner anlockte. Velo sprang sofort an und auch ohne Plan fand es den direkten Weg zum Tell-Denkmal, wo schräg gegenüber der Maroni-Mann balkanische House-Musik abspielte.

Rückreise

Tour retour dann eher Tortour – am See entlang alles leicht und flüssig, aber die 600 Höhenmeter reine Hölle. Vor allem im Kehrtunnel, wo die Motorfahrzeuge aufgrund der eigenartigen Akustik ein wahrhaft donnerndes Geräusch verursachten, welches wie zukommende Panzer tönte. Als später ein fetter Traktor plus Anhang einfuhr, kamen Gedanken an eine mächtige Lokomotive mit Panzerbegleitung auf. Oft musste eher gestossen als getreten werden, das Einkaufserlebnis wog schwer.

Endlich im Hauptort angelangt die notwendige Atempause zum kurzen Gang zum Fistbruder, der mit etwas Wasser in Kreuzform auf dem Grab geehrt wurde. Eigentlich war die 17 Uhr Gondel laut Marschtabelle geplant, doch der heftige Hungerast führte rasch zur völligen Erschöpfung. Tatsächlich wurde den ganzen langen Tag vergessen zu essen, und das ohne Frühstück.

Zwischenlager vielleicht ratsam

Die immerhin brutalen 3’600 Höhenmeter brutto trugen bestimmt auch noch ihr Scherflein zum dann doch überraschend rapiden Verfall des Kreislauf- und Stoffwechselsystems bei. Dafür konnte am Wasserloch an der Talstation das Flüssigkeitsdefizit etwas reduziert werden, da die 17.30er noch gemütlich abwärts schwebte. Aufgrund der hitzigen Ausdünstungen danach waren die Fenster der Kabine flugs beschlagen, obwohl die Gondel siebenfach unterbesetzt war.

Rückblick aus Gondel im Abendlicht auf Schlieren und Uri Rotstock

Heimreise

Oben dann die Hochzeitsgesellschaft im vollen Ornat, Fototermin in der Restsonne. Kurzes Grüezi im Alpbeizli, die Wirtin gab mir statt «mit» den sauren Most «ohne». War jedoch genau dir richtige Medizin für die Unterzuckerung. Labsal nur Hilfsausdruck. Auf dem Heimweg wurde dann im schwindenden Tageslicht Filmstar Aschwanden Sepp erblickt, der mit Sense in der Hand von einer der steilen Hänge abstieg. Beispiel für Mensch-Natur-Symbiose: Wildheuen könne man solange wie es das Wetter erlaube, also bis in den Oktober hinein. Interessant: Wildheuen beugt Lawinen und Erdrutschen vor.

Nach dem stärkenden Abendbrot dann einige vergebliche Suchläufe und die Überraschung im DAB-Empfänger: auf DLF tatsächlich ein Schweizer Idiom. Das wirklich tolle Hörstück mit und über den Schriftsteller Gerhard Meier wurde extra für den happy Hobbyschweizer ausgestrahlt. Es gibt sie also doch: pure positive Bergstrahlung!

Bergstrahlung

Am 23. September 2023 überquert die Sonne auf ihrer scheinbaren Bahn am Himmel um 08:50 Uhr MESZ den Himmelsäquator von Nord nach Süd. An diesem Tag beträgt die Dauer des lichten Tages sowie der Nacht auf der Nord- und Südhalbkugel theoretisch jeweils genau 12 Stunden. Dieses Ereignis wird als Tagundnachtgleiche oder als astronomischen Herbstanfang auf der Nordhalbkugel bzw. Frühlingsanfang auf der Südhalbkugel bezeichnet. Weil aber die Atmosphäre das Sonnenlicht an den Himmel lenkt, auch wenn die Sonne knapp unter dem Horizont steht, ist der Tag bei Herbstbeginn tatsächlich 12 Stunden und 12 Minuten lang. Am 26. September ist dann wirklich Herbst, zumindest was die längeren Nächte angeht. Mehr zu Jahreszeiten dort.

Mauersegler

Professionell wird einiges abgedankt. Sterbenskranke, Lawinenopfer, Drögler. Kinder, Mütter, Väter. Zufallstote, Unfalltote, Selbsttote. Ungerecht scheint Gevatter Tod jedes Mal und macht doch alle gleich. Mächtiges Gemäuer hält den Schmerz, die Wut, die Klage von unzähligen Tränen durchtränkt lediglich aus; Aushalten thematisch und Hilfsausdruck zugleich. Dann aber gibt es Abdankungen, Lebensfeiern, Verabschiedungen, welche durch reine Emotionalität überzeugen. Die jene dräuende und schwermütige Trauer durch die schiere Zahl der Anteilnehmenden mit quasi ernsthafter Leichtigkeit teilen und fast nichtig aufgelöst ein surreales Shareholdervalue der Überlebenden entsteht.
Die Akzeptanz von Werden und Vergehen führt analog der U-Prozedur zur Kartharsis des Augenblicks, indem durch einen Ton, ein Wort oder einem Lied eine Gemeinsamkeit und gleichzeitig Unteilbares entsteht. Ein Moment nur, eine Schwingung, eine Fügung.

Zum Ausklang flattern nur scheinbar aufgeschreckt und dabei absichtlich digital konservierte Mauersegler zwitschernd um die Wette durch den lichten weiten Raum, bis eine der Shareholderinnen schliesslich verwundert fragt, wo denn die Vögel bloss seien – sie könne sie nämlich nicht entdecken.