Pokalpleite

Der FC Zürich steigt diese Saison mit dem Trostpflaster Coupe de Suisse ab. Nach einem 0-4 Heimdebakel gegen Finalgegner Lugano just in der Vorwoche wurden die Spieler von den Fans mit «Usse, Usse!» erst gar nicht in die Kurve gelassen, einige Anhänger erstürmten den Kabinentrakt, Müllcontainer wurden vom wütenden Mob auf Strassen gekippt und der Trainer noch geschwind entlassen. Nach dem Coup wurde der Kübel vom Kapitän nebst dem vom Spiel gezeichneten Stellvertreter in die während des Spieles weitgehend stumm gebliebenen Fankurve getragen.

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Dem Tabellenletzten reichte dabei ein glückhaftes 1-0 gegen den Vorletzten aus dem Tessin, um der berüchtigten Südkurve ein Besänftigungsopfer darzubringen. Feierstimmung Fehlanzeige.

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Sprachverlust

Wenn es jemanden die Sprache komplett verschlägt, muss schon ein ziemlich einschneidendes Erlebnis vorangegangen sein. Eine solche traumatische Blockade ist meiner Mutter widerfahren, nachdem sie als Kind ihr Heimatland verlassen musste und fortan kein ungarisches Wort mehr sprach. Etwa eine halbe Million Donauschwaben wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ungarn deportiert. Der Treck führte westwärts nach Bayern, wo die Ungarndeutschen versuchten sich in einer für sie neuen und fremden Welt wieder zu etablieren.

Donauschwaben, Flucht Donauschwaben

Zwanzig Jahre später folgte dann der erste Besuch in der inzwischen fremd gewordenen Heimat, wo ein nicht unerheblicher Rest der Verwandtschaft als deutschsprachige Minderheit verblieb. Im Geburts- und Elternhaus wohnten inzwischen Fremde, aber innerhalb der ortsansässig gebliebenen Familie wurde der altertümliche klingende donauschwäbische Dialekt gesprochen und meine Mutter konnte mitreden. Selbst heute ist die sog. Schwäbische Türkei die noch immer grösste deutsche Sprachinsel in Ungarn. Nach weiteren Besuche in der alten Heimat ging meine Mutter schliesslich ihren Sprachverlust in einem Sprachkurs an und erarbeite sich die verlernte ungarische Aussprache noch einmal.

Ausländer

Krieg und Flucht hinterlassen nach Erkenntnissen vom Konstanzer Epigenetiker und Neuropsychologen Thomas Elbert* ihre traumatischen Spuren aber nicht nur im Gehirn der Betroffenen, sondern auch in deren Erbgut. Zwar ändere sich das Genom nicht selbst, wohl aber die genetische Lesart und hat so direkte Auswirkungen auf Hirnstruktur, Hormonhaushalt und Nervensystem des Kindes — das Kind reagiert schlicht sensibler auf seine Umwelt; Elbert spricht von einer verstellten Stressachse:

Jetzt kommt das Kind mit dieser vorprogrammierten Stressachse zur Welt und wird sozusagen mehr aufmerksam auf eine Welt: hier lauern Gefahren auf mich und ist daher weniger explorativ, aber ängstlicher und vunerabler für psychische Störungen.

Auswanderung

Elberts Ansatz zur Traumabewältigung beinhaltet eine eigentlich alte Technik, nämlich die erzählte Leidensgeschichte, welche von ihm einschliesslich der Gefühle rekapituliert, schriftlich fixiert und den Opfern übergeben wird. Diese quasi beglaubigte Lebensgeschichte ermöglicht den Betroffenen Gefühl und Ereignis wieder zusammen zu bringen, eine Vervollständigung der Erinnerung, welche helfen soll, wieder die Kontrolle über seine Gefühle zu gewinnen.

Die Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs wird unterschätzt, weil man sie vollständig tabuisiert hat: man durfte nicht zugeben, dass man traumatisiert war. Wir haben in den letzten Jahren nochmal die Frauen befragt, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben und jetzt natürlich schon auf die 90 zugehen: 20% der Frauen sagen, sie sind vergewaltigt worden und haben es nie jemanden gesagt. Jetzt kurz vor dem Tod sei es auch egal, jetzt kann ich mal auf den Tisch legen, was passiert ist. Es war die Unfähigkeit in der Nachkriegsgesellschaft darüber zu sprechen, die zu viel stillem Leid geführt hat.

Das verlogene Narrativ des Integrationswunders im Nachkriegsdeutschland, die Erfolgsstory von Aufschwung und Integration camouflierte perfekt die gleichzeitige vonstatten gehende Verdrängung von Schuld und Vergangenheit.

Damals gab es ca. 13 Millionen Rucksackdeutsche; heute schätzt das UNHCR die Zahl der weltweit Vertriebenen auf ca. 60 Millionen liegt — ein mutmasslich nicht zu bewältigendes Trauma per se.

* Professor Thomas Elbert ist u. a. Vorstandsmitglied von „vivo international“ (victims voice), die mit Überlebenden organisierter Gewalterfahrungen arbeitet.

European Contest

Bilder sind fordernd, oft manipulativ und verwirren meist die Sinne.

Ich merk es genau, doch kann es kaum glauben —
wir werden verwundet durch das was wir sehen.

(Tocotronic 2002)

Der offensichtliche Subtext der Flüchtlingsproblematik ist längst im schockierenden Foto jenes erschöpften Menschen hinterlegt, welcher den Strand der Kanarischen Inseln erklimmt, während im Hintergrund in dezenter Unschärfe Touristen urlauben. Diese schön entlarvende Momentaufnahme datiert bereits von Mai 2006!

Refugees welcome

Verblüfft und hingerissen war ich nun durch eine Performance im ersten Halbfinal vom ESC 2016, als eine engagiert auftretende schwedische Tanz-Companie dem aktuellen Flüchtlingselend einen unerwartet gelungenen zeitgenössischen Ausdruck verlieh und überdies einen berührenden emotionalen Abgang hinlegte:

Die zutiefst menschelnde Komponente dieser Präsentation ist im ESC-Kontext reichweitenbedingt einfach grandios. Angebracht wäre daher eine Wiederholung dieser Über-Ästhetisierung von Elend, Krieg, Vertreibung und Ankommen im Grand Final vom ESC, einer bisweilen doch arg fragwürdigen Veranstaltung in der medial grell durchchoreographierten Wohlfühloase Europa.