Wenn es jemanden die Sprache komplett verschlägt, muss schon ein ziemlich einschneidendes Erlebnis vorangegangen sein. Eine solche traumatische Blockade ist meiner Mutter widerfahren, nachdem sie als Kind ihr Heimatland verlassen musste und fortan kein ungarisches Wort mehr sprach. Etwa eine halbe Million Donauschwaben wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ungarn deportiert. Der Treck führte westwärts nach Bayern, wo die Ungarndeutschen versuchten sich in einer für sie neuen und fremden Welt wieder zu etablieren.
Zwanzig Jahre später folgte dann der erste Besuch in der inzwischen fremd gewordenen Heimat, wo ein nicht unerheblicher Rest der Verwandtschaft als deutschsprachige Minderheit verblieb. Im Geburts- und Elternhaus wohnten inzwischen Fremde, aber innerhalb der ortsansässig gebliebenen Familie wurde der altertümliche klingende donauschwäbische Dialekt gesprochen und meine Mutter konnte mitreden. Selbst heute ist die sog. Schwäbische Türkei die noch immer grösste deutsche Sprachinsel in Ungarn. Nach weiteren Besuche in der alten Heimat ging meine Mutter schliesslich ihren Sprachverlust in einem Sprachkurs an und erarbeite sich die verlernte ungarische Aussprache noch einmal.
Krieg und Flucht hinterlassen nach Erkenntnissen vom Konstanzer Epigenetiker und Neuropsychologen Thomas Elbert* ihre traumatischen Spuren aber nicht nur im Gehirn der Betroffenen, sondern auch in deren Erbgut. Zwar ändere sich das Genom nicht selbst, wohl aber die genetische Lesart und hat so direkte Auswirkungen auf Hirnstruktur, Hormonhaushalt und Nervensystem des Kindes — das Kind reagiert schlicht sensibler auf seine Umwelt; Elbert spricht von einer verstellten Stressachse:
Jetzt kommt das Kind mit dieser vorprogrammierten Stressachse zur Welt und wird sozusagen mehr aufmerksam auf eine Welt: hier lauern Gefahren auf mich und ist daher weniger explorativ, aber ängstlicher und vunerabler für psychische Störungen.
Elberts Ansatz zur Traumabewältigung beinhaltet eine eigentlich alte Technik, nämlich die erzählte Leidensgeschichte, welche von ihm einschliesslich der Gefühle rekapituliert, schriftlich fixiert und den Opfern übergeben wird. Diese quasi beglaubigte Lebensgeschichte ermöglicht den Betroffenen Gefühl und Ereignis wieder zusammen zu bringen, eine Vervollständigung der Erinnerung, welche helfen soll, wieder die Kontrolle über seine Gefühle zu gewinnen.
Die Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs wird unterschätzt, weil man sie vollständig tabuisiert hat: man durfte nicht zugeben, dass man traumatisiert war. Wir haben in den letzten Jahren nochmal die Frauen befragt, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben und jetzt natürlich schon auf die 90 zugehen: 20% der Frauen sagen, sie sind vergewaltigt worden und haben es nie jemanden gesagt. Jetzt kurz vor dem Tod sei es auch egal, jetzt kann ich mal auf den Tisch legen, was passiert ist. Es war die Unfähigkeit in der Nachkriegsgesellschaft darüber zu sprechen, die zu viel stillem Leid geführt hat.
Das verlogene Narrativ des Integrationswunders im Nachkriegsdeutschland, die Erfolgsstory von Aufschwung und Integration camouflierte perfekt die gleichzeitige vonstatten gehende Verdrängung von Schuld und Vergangenheit.
Damals gab es ca. 13 Millionen Rucksackdeutsche; heute schätzt das UNHCR die Zahl der weltweit Vertriebenen auf ca. 60 Millionen liegt — ein mutmasslich nicht zu bewältigendes Trauma per se.
* Professor Thomas Elbert ist u. a. Vorstandsmitglied von „vivo international“ (victims voice), die mit Überlebenden organisierter Gewalterfahrungen arbeitet.