Das Fortschrittsversprechen hält nicht mehr – der Widerspruch von Beschleunigung und Zeit entzweit den modernen Menschen. Technischer Fortschritt wird zwar gerne als Zeitgewinn beworben und doch lässt sich die Zeit nicht sparen oder vermehren, sondern bloss verdichten. Mehr tun in weniger Zeit lautet die Devise. Der Zeitdruck in Beruf und Freizeit nimmt dramatisch zu: beispielsweise spart Email zunächst vermeintlich Zeit, was aber in der Folge schon rein mengenmässig ins Absurde gekehrt wird; technische Apparaturen dienen nicht nur der Beschleunigung von Arbeitsabläufen sondern auch deren Vervielfältigung. In der Freizeit gilt das Primat der Selbstoptimierung und sogar Entschleunigung wird so zum Stressfaktor. Jedwede gesellschaftliche Resonanz tritt folglich mehr und mehr in den Hintergrund.
Once I had a love and it was a gas
Soon turned out to be a pain in the ass
Seemed like the real thing, only to find
Mucho mistrust, love’s gone behind
© Debbie Harry/Chris Stein
Die Verheissung namens Fortschritt wird zum Zwang: falls man sich nicht optimiert, effizient aufstellt, eine Strukturanpassung durchführt, ist man der Konkurrenzsituation nicht gewachsen. In einer wettbewerbsbasierten Gesellschaft herrscht notorische Unruhe, so dass Angst ein Hauptantriebsfaktor ist, der einen auf die Akkumulationsschiene treibt.
Für Soziologe Hartmut Rosa ist das kapitalistische Wirtschaftssystem ursächlich für die dramatische Beschleunigung seit dem 18. Jahrhundert. War dessen Versprechen vor allem Bedürfnisbefriedung und ein besseres Leben, was noch für jede Elterngeneration bezüglich der Zukunft ihrer Nachkommen gesellschaftlicher Konsens war, so zeigt sich heute, dass durch steigendes Wachstum selbstzerstörerische Kräfte freigesetzt werden. Nicht nur in der Umwelt entstehen irreparable Schäden, sondern auch im Menschen, wenn er zunehmenden Zeitdruck nicht mehr standhält.
«Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.»
(F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches – Chemnitz 1878)
Die Turbogesellschaft leidet unter Zeitdruck, die Zeit geht scheinbar aus, weil durch technische Beschleunigung mehr Welt möglich erscheint, jeder Arbeits- und Urlaubsplatz dank Auto, Bahn oder Flugzeug jederzeit erreichbar ist. Zugleich wird Zeit zum knappen Gut und die herrschende Grundorientierung immer absurder: noch mehr tun, noch effektiver mit der Zeit haushalten und dennoch geht man am Ende des Tages immer öfter als schuldbewusstes Subjekt zu Bett, da meist Aufgaben und Dinge bleiben, die man nicht erledigt hat, abgesehen von der permanent wild wuchernden alltäglichen To-do-Liste. Erhaltung durch Akkumulation und Steigerung ist das grosse Paradoxum im Kapitalismus, bereits Stillstand bedeutet ökonomischen Abstieg im gesellschaftlichen wie persönlichem Rahmen.
Gemäss Hartmut Rosa war Wissen für die allermeisten Kulturen wie ein wohl behüteter Schatz: von der Nahrungssuche über kultische Handlungen bis zur Vorratshaltung wurde dieser Schatz einst umsichtig tradiert. In der Moderne wird aus dem Wissenschatz die Wissenschaft, eine Dynamisierung, welche es nicht darauf anlegt Wissen zu transportieren, sondern viel mehr Fragen stellt als beantwortet. Dies ist ein völlig neues Konzept von Wissen, Forschung wird wichtiger als Lehre, das Weitergeben von Wissen. Die Wissen*schaft* lebt davon, dass sie fortlaufend neue Fragen stellt, neue Ergebnisse und Erkenntnisse erzielt, Grenzen des Gewussten systematisch ausweitet. Rosa zufolge war für den beginnenden Beschleunigungsprozess jene Änderung der institutionellen Grundstruktur massgeblich, nämlich dass nur durch Steigerung die gesellschaftliche Formation erhalten werden könne.
Die einstige Hoffnung, die Grundangst ökonomischer Knappheit durch das kapitalistische Wirtschaftssystem aufzulösen ist heutzutage einer neuen Existenzangst gewichen, der mittlerweile globalisierte Existenzkampf verursacht hierbei noch mehr zeitlichen Druck. Dieser aber wirkt nicht nur von aussen, sondern fordert nach der Optimierungslogik auch andauernd das Beste aus sich selbst heraus zu holen. Entfremdung, der Zwang nach mehr Weltverfügung steigt durch technischen Fortschritt: Aneignung, Optimierung und Ansammlung sind Anforderungen und Stressfaktoren zugleich. Jene Beschleunigung kann bewirken, dass die Welt unnahbar fremd und leer, fast schon als totes Material erscheint, es fehlt der Zugang und winkt der Burnout.
Die moderne Angst, quasi den Faden zur Welt zu verlieren, obwohl man sie zu kennen und zu beherrschen meint, hält Esoterikboom und Fundamentalismus den Steigbügel; diese sind bei jeder Ungewissheit sofort zur Stelle: ohnehin findet emotional aufgeladene und überladene Symbolik gerade dort ihr Zielpublikum und bietet allerlei Versprechungen.
Jedwedes Resonanzverhältnis aber ist ähnlich der Kommunikation aufgebaut: ein Buch quer zu lesen spart Zeit, doch fehlt dabei die Anverwandlung. Damit das Buch mich tatsächlich erreicht, berührt, etwas in mir bewirkt, muss ich mir Zeit nehmen, zulassen, dass überhaupt eine Resonanzbeziehung entstehen kann. Dasselbe gilt für die Rezeption von Musik, das Geniessen der Natur, die zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt — der Faktor Zeit bleibt allgegenwärtig und in der Tat bestimmend.