Mitte der 60er-Jahre kam Bergman zu uns in den Kindergarten. Bergman brachte, neben seiner Schwester Tamara, eine Prise Exotik mit, denn in der Gegend wohnten — abgesehen von den Rucksackdeutschen — keine Ausländer. Bergmans Familie wohnte nicht in der direkten Nachbarschaft: sie fand Logis im Dachgeschoss einer Tischlerei, der Arbeitsstelle von Bergmans Vater.
Bergmans Vater half meinem Vater beim Innenausbau unseres Hauses, um den gewachsenen Platzansprüchen Raum zu geben. Seine fremde Erscheinung, orientalisch akzentuiert mit einem dicken schwarzen Schnurrbart, imponierte uns Kindern. Er kam gerne zu uns und arbeitete gut mit meinem Vater zusammen — fast wurden sie richtige Freunde.
An Tamaras Geburtstag gab es frischen Bienenstich von der Bäckerei; vielleicht getraute sich Bergmans Mutter einfach nicht, uns unbekannte Baklava aufzutischen, vielleicht wollte sie keinen Anfängerfehler in den ersten Assimilationsversuchen begehen. Jedenfalls gab es Bienenstich vom Bäcker bislang nicht einmal bei uns zu Hause! Der bei Tamara war besonders fein und blieb bis heute im Gedächtnis haften.
Als Bergmans Eltern später zurück in die Türkei gingen, stand dort das erarbeitete Mietshaus parat. Bergman und seine Geschwister blieben hier, und ihre Eltern kamen dann auf Besuch nach Deutschland, um die Enkelkinder zu sehen.
Mittlerweile ist die Türk-Kültür fester Bestandteil der elterlichen Nachbarschaft — die Häuser der Rucksackdeutschen werden zusehends von türkischen Familien aufgekauft. Die Nachbarskinder klingeln bei meinen Eltern oft an der Haustüre, um Selbstgebackenes vorbei zu bringen. Baklava, Börek und Lahmaçun sind keine Fremdworte mehr und Ibrahim Tatlises löst längst keinen Hörsturz mehr aus.
Und heute bin ich selber ein Türke von morgen.
Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!