Durch einen im heimischen Briefkasten überraschend vorgefundenen Hinweis einer Frau Dr. Sowieso aus Ludwigshafen wurde auf eine CD-Taufe hingewiesen. Die Frau Doktor blieb weiterhin unbekannt, doch der Inhalt des Couverts war vielversprechend. Die kultische Handlung war in Wiesbaden angesetzt und sollte deutsche Schlager aus den 20ern, 30ern, 40ern und 50ern des letzten Jahrhunderts im frischen Gewand präsentieren. Pflichttermin nur Hilfsausdruck, zumal es sich bei den Täuflingen um die langjährigen Favoriten Augst & Daemgen handelte, deren interessantes musikalisches Schaffen seit geraumer Zeit mit wachsender Begeisterung goutiert wird. Nach etwas Hirnen konnte mittels einer Prise vom glücklichen Umstand das Wochenende geplant werden und das Bahnabenteuer ab Zürich wurde wohlgemut und mit leicht kribbelnder Vorfreude angegangen.
So, wie das Meer, ist das Leben. Ewige Ebbe und Flut.
Nach einem kurzen Unterländer Zwischenstopp ging es weiter an Neckar und Rhein entlang in die hessische Haupt- und Kurstadt; heute gilt diese als eine der wohlhabendsten Gemeinden der Bundesrepublik. Zürich-Wiesbaden also reine Wohlfahrt, hehe. Von der Stadt selbst konnte aufgrund der anbrechenden Dunkelheit nicht all zu viel aufgesogen werden, die Zeit und das Ziel liessen keinen Bummel zu. Ausser einem zwitschernden Baum und den in D üblichen Randständigen in der Bahnhofsgegend blieb nichts hängen.
Dank gründlicher Recherche im Netz konnte das unbekannte Terrain einigermassen zielsicher angesteuert werden, nur dann, knapp vorm Aufschlag ging es fehl. Eine Dreier-Gruppe inklusive Rollstuhl, ein schwergewichtig schnaufender Ami und der von bereits zehnstündiger Reise etwas strapazierte Hobbyschweizer landeten am dunklen Stadtrand in einer Sackgasse. Alle Online-Pläne meinten übereinstimmend dass die Örtlichkeit zwar direkt vor uns läge, aber es gab einfach kein Durchkommen. Trübe herbstliche Nässe schlug bereits aufs Gemüt, als es nach einem geordneten Rückzug dann doch noch gelang korrekt einzufädeln und das Lokal des Glücks lag erleuchtet vor uns. Rollstuhlrampe gab es zudem.
Das Leben ist kein Tanzlokal
Von der Homepage bekannt war die Übersichtlichkeit des Jazzclubs art.ist, doch verblüffender weise war der Besucherandrang überhaupt nicht drängend. Nasowas, heute sind doch die Cracks da, die die sich seit geraumer Zeit am Liedgut der Deutschen abarbeiten und etliche Inspirationen mit ihren Interpretationen schufen, so dass manche der teils völlig überspielten ollen Stücke wieder richtig gut tönen.
Drinnen an der Kasse fast unverschämt günstige 14 Euro, vier für ein Glas Wein und – surprise, surprise – die ersten 10 Gäste des Abends erhalten die zu taufende CD gratis! Potzblitz, ja was ist das denn für ein herzliches Willkommen nach der Odyssee des Tages! Vorfreude plus mehr Freude quasi Freude im Quadrat.
Mit dem Glas Wein ging es in den kleinen Saal, um das Programmblatt genauer zu studieren. Aha, könnte den Abend weitestgehend mitsingend verbringen. Die Platznachbarin stimmte zu und war erstaunt, ob der weiten Anreise und offensichtlichen Fantums meinereiner. Die Plätze füllten sich langsam, doch mehr als 30 Personen zählte ich fast ungläubig nicht. Später meinte Marcel Daemgen, dass es besonderen Spass machte vor «handverlesen Publikum» zu musizieren.
Der mitproduzierende Redakteur vom DLF trat auf und gab die erklärende Einleitung. Es sei in den letzten 25 Jahren die siebte gemeinsame Einspielung und diese sei die brisanteste. Schlager meist schlüpfriges Terrain, aber Augst und Daemgen trügen dank Dekonstruktion und Intervention, durch eigene Betonung und freche Disruption ihren Teil dazu bei, die bekannten Gassenhauer im Hören neu zu erleben. Bloss seien deren Interpretationen eben nicht zum Mitsingen gedacht – autsch. Auferstanden aus Ruinen und Heile, Heile Gänsje also ohne mich. Schade eigentlich, doch aller Respekt gebührt den Künstlern des Abends, d’accord. Und die waren nicht nur zu zweit gekommen, also Stimme und Elektronik, sondern brachten mit Sophie Agnel am Flügel sowie Jörg Fischer am Schlagwerk geübte Könner mit. (Tipp: die Madame an den Tasten und Saiten tourt im November – ein immersives Klangereignis ist garantiert.)
Nach der erhellenden und zugewandten Einführung erschienen die Helden des Abends tatsächlich auf der kleinen Bühne. Locker bekannt waren sie bereits durch das eine oder andere Video. Oliver Augst mit längeren, leicht wirr getragenen Haaren, Marcel Daemgen wie üblich in seinem champagnerfarbenen Anzug. Frau Agnel, ach ja, die sprach vorhin frankophon an der Bar und der ebenfalls vorher schon gesichtete bärige Percussionist nahmen ihre Plätze ein.
Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht, bedeutet Seligkeit und Glück
Mit «So oder so ist das Leben« wurde der Abend eröffnet, mit «Wenn ich mir was wünschen dürfte« gings weiter und im Anschluss dran rasant, rasant «Ich weiss, es wird einmal ein Wunder geschehn», heiligs Blechle, die gehen ja ran, Zwischenapplaus war zuvor verbeten worden. Knarzige Korg-Töne, krachendes Drum & Bass ausm Macbook, dazu das manipulierte Spiel am Flügel, Haarbürste, Murmeln etc., alles im Einsatz, Frau Agnel sass kaum, schon stand sie wieder mit der Hand an den Saiten, um donnernde Töne zu dämpfen. Der Percussionist schlug auf allerhand Metall, welches auf den Trommeln platziert wurde, blies ein direkt auf den Fellen aufsitzendes Trompetenmundstück, oha, freejazzig, es war laut, es war dreckig, es war akkurat und stimmig, trotz aller kakophonischer Einsprengsel. Oliver Augst wie immer leicht exaltiert, dabei knapp vor jedweder Peinlichkeit hielt tapfer durch und sorgte mit seiner Stimme für Eindringlichkeit. Es freute mich den heftigen Elektroniker beim sich freuen zusehen zu können, denn seinen innewohnenden Schalk hatte ich auf den diversen Tonträgern schon immer deutlich raus gehört. Dann brach doch der Applaus den Bann, als die Kapelle hineinsteigernd sich fast verlor und bei «Davon geht die Welt nicht unter» für wirklich ganz neue und pochend hämmernde Tonkaskaden sorgte und der kleine Club beinahe abhob. Surreal die Stimmung, die Schlager wurden exekutiert und standen doch immer wieder auf, «Heile, Heile Gänsje» und «Er heisst Waldemar» sorgten weiter für prächtige Stimmung, während ich derweil stumm mitsang und in einer Liedpause geschwind einen Schluck vom einst im Köpenicker Weinladen Kennen und Schätzen gelernten Corbière nehmen musste, um wieder einigermassen geerdet zu werden
Meine Güte, was für ein Tempo, was für ein Parforceritt durch die nicht immer allerhellsten Zeiten meines Geburtslandes. Der DLF-Redaktor Frank Kämpfer hatte dabei zu Beginn ganz deutlich betont:
Aus der Krisenwahrnehmung unserer Gegenwart strecken sich uns beredte Jahreszahlen deutscher Geschichte entgegen: 1923, 1933, 1943, 1953. Wir verstehen diese Spanne, die fast ein halbes Menschenleben umfasst, als einen historischen Block immenser Schreckenserfahrung – verbunden mit starker Verunsicherung und wiederholter Auflösung gültiger Normen und Werte. Eine unserer Thesen lautet: Eine bislang wenig beachtete, vielleicht gar ihre wichtigste Bewältigungsform sei die verzweifelte Suche nach Normalität. Im Namen ihrer „Re-Integration in die Normalität“ – so die US-amerikanische Historikerin Monica Black – blendete der Großteil der deutschen Bevölkerung das in jenen Jahrzehnten Durchlebte aus, verschwieg und verdrängte die in Krieg und nationalsozialistischer Herrschaft getätigten Erfahrungen, statt sie aufzuarbeiten und nicht der Folgegeneration zu übertragen.
Denn in uns allen liegt die Sehnsucht nach dem Einen
«Mutter, hast du mir vergeben», die Dietrich vor Augen. Eindringlich unter die Haut gehend, schwer aufatmend und dann der mögliche Disco-Knaller «Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da». Uff, gut gab es «Kauf dir einen bunten Luftballon» zum Programmende, der schön und ruhig richtig durchatmen liess. Ganz schön ramponiert und doch high war die rauschhafte Achterbahnfahrt nach 50 Minuten fast vorüber, bevor, ja ja, tüchtiger Applaus, dann doch die passende Zugabe mit «Das Lied ist aus» gegeben wurde.
Völlig geplättet brachte ich noch ein Grandios! zu meiner Sitznachbarin heraus, dann weiter Händewundklatschen und Bravorufen. Marcel Daemgen lud nach einer Beruhigungspause alle auf ein Glas Sekt ein und der Umtrunk wurde mit dem Toast «Musik ist Trumpf» eingeläutet. Zwei drei Worte des Lobes konnte ich an den eindrücklichen Oliver Augst richten, er lobte retour und dann hiess es schon wieder weiter gehts, da die Bahn kurz vor Mitternacht nicht ohne mich fahren sollte. Und die Musik fuhr ein ganzes Stück weit mit.