Offenheit nach vielen Seiten ist hier ohne Zweifel ein geografisches Merkmal, das im Lauf der Geschichte mehrmals entscheidende Bedeutung erhielt. Aber dennoch ist Zürich, im Grossen und Ganzen genommen, eine Siedlung jener Art, um deren ominösen Namen wir uns um der Ehrlichkeit willen nicht herumdrücken wollen: Provinz. Selbst diese zahlenmässig grösste Stadt der Schweiz kennt heute keine Filmpremieren, keine Boxkämpfe oder Politik aus erster Hand, keine sodomitischen Laster und kein konstruktives Genie, wie die Weltzentren sie zeigen.
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Die Atmosphäre Zürichs ist die einer moralischen Loyalität, welche darin besteht, dass man sich um den Nachbarn nicht gross kümmert, solange er nicht störend grosse Sprünge macht. Diese verlacht man dann freilich rasch als Kapriolen. Noch heute kommen aus der übrigen Schweiz wie aus dem Ausland diejenigen mit Vorliebe zu uns, welche gerne in bequemer Ungestörtheit separaten Zielen nachgehen.
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Die Stadt ist gross genug, um Spezialisten aller Art zu genügen, und doch so klein, dass sie dem, der von ausländischen Hauptstädten zurückkommt, wie Natur erscheint. Jeder kann sich weltmännisch isolieren, sofern ihn dies lockt, jeder aber auch fast eine kleinstädtische Nestwärme erzielen, wenn er an diese gewöhnt ist. Zürich ist heute erweitert und gesteigert zum Zentrum der deutschen Schweiz schlechthin, aber es hat dadurch auch viel von seiner historischen Farbe eingebüsst. Es steht auf einer Zwischenstufe: Für den Schweizer ist es sehr entfremdet, aber für den Fremden doch sehr schweizerisch.
Es gibt aber nur eine polemische Haltung unserem Jahrhundert gegenüber nicht den ängstlichen Ruf zurück in die Idylle, sondern die Forderung, dass die ungeheuren Verheissungen, welche auf dem Grund des sichtbaren Niedergangs schlafen, nicht in ihrem Wachstum gekränkt werden. Der Mensch, solange er atmet, wird immer schwanken zwischen einem Dort und Hier, zwischen einer Heimat und einer Fremde, einer Begeisterung und einer Bequemlichkeit. Aber er kann einen neuen Sinn in diese Alternative legen, sobald er erkennt, dass auch seine Heimat eine internationale Vokabel ist. Er kann sich erziehen zu dem hohen Handwerk, dieses kleine Gefäss mit einem grossen Inhalt zu füllen. Wer allzu fanatisch an seiner Heimat hängt, dem ist es noch immer nur um das Gefäss zu tun gewesen. Seine Lippen haben sich an seine Rundungen gewöhnt, und er sieht nicht so sehr darauf, was ihm daraus zufliesst, als darauf, dass ihm die unfreie Gewohnheit nicht genommen werde.
aus: Walter Muschg, Zürcher Geist, Merian Zürich, Nr 1, Januar 1983